KATJA KALLIO: "DIE ZEIT DER ZUGVÖGEL"

Katariina lebt mit ihrem Mann, dem Fotografen Olli, und ihrer Tochter Elina auf einer kleinen Insel vor Helsinki. Ihr Leben verläuft in weitgehend geordneten Bahnen und verspricht am Anfang von Katja Kallio’s Roman „Die Zeit der Zugvögel" eher langweilig zu werden.

Das ändert sich schlagartig, als eines Tages die Polizei vor der Tür steht und der Familie mitteilt, dass Katariinas Vater verstorben ist. „Ich weiß nichts darüber, was er jemals gemacht hat. Ich bin nur ein Versehen aus seiner Jugend", ist ihre Reaktion auf die Fragen der Polizisten. Sie hat ihren Vater nie bewusst erlebt. Er hat sie und ihre Mutter verlassen, als sie zwei Jahre alt war. Und sie will auch heute ausdrücklich nichts von ihm wissen.

Trotz aller Gegenwehr geschieht jedoch etwas mit ihr. Alles, was sie bisher glaubte, so erfolgreich aus ihrem Leben verdrängt zu haben, bricht mit vielfacher Macht hervor. „Katariina hätte nie gedacht, dass sie auf diese Weise um ihren Vater weinen würde. Sie fühlt dem Vater gegenüber nichts. Sie hat nichts verloren, denn es hat ja nichts gegeben. Sie weiß das und weint hemmungslos. Ein merkwürdiges Weinen. Als ob es aus einem anderen Organ käme als das Weinen im Allgemeinen. Nicht aus dem Gehirn, sondern aus etwas Merkwürdigem, aus einer seltsam geformten anderen Drüse."

Gleichzeitig erfährt Katariina, dass sie noch drei Halbgeschwister hat, zwei Schwestern, die beide – ein erster Stich ins Herz - ebenfalls Katariina heißen, und einen Bruder namens Markus. Alle vier haben unterschiedliche Mütter, aber ihre Lebensgeschichte ist ähnlich: Der Vater hat die Familie verlassen, als sie noch kleine Kinder waren. Lediglich Markus hat später noch Kontakt zu seinem Vater gehabt.

Spätestens als die zweite Katriina die erste anruft, beginnt eine anrührende, teils verstörende unfreiwillige Reise in die Tiefen der eigenen Identität, eine Suche nach dem Vater, den niemand finden wollte, den man geglaubt hatte längst aus dem eigenen Bewusstsein getilgt zu haben.

In den wenigen Tagen zwischen der Todesnachricht und der Beerdigungsfeier müssen die ungleichen Geschwister irgendwie miteinander umgehen. Wie in einem Dokumentarfilm seziert die Autorin aus ganz unterschiedlichen Perspektiven die Seelenzustände der Beteiligten. Selbst der einzige Freund des Vaters oder die Leiterin des Hotels, in dem er gestorben ist, kommen zu Wort. Aber im Mittelpunkt bleiben die Geschwister und ihr wahrhaft kompliziertes Verhältnis zueinander.

Mehr und mehr spüren sie, dass sie sich dem toten Vater stellen müssen, um ihre eigene Identität erkennen und wahren zu können. Die Hauptperson Katariina führt das an den Rand des Zerbrechens ihrer so sicher geglaubten Familie.

Sensibel, sehr tiefgründig, aber ohne jede Bewertung schildert Katja Kallio, wie die Ereignisse so ganz nebenbei in den Alltag der „Haupt"–Katariina hineinplatzen, ihre Welt auf den Kopf stellen und alles sicher Geglaubte in Frage stellen.

Spannend wie ein Krimi ist das Wechselspiel von Nähe, Ablehnung, Gleichgültigkeit, gegenseitigem Umkreisen, Neugier und einer tiefen Verbundenheit zwischen den Geschwistern. Komplizierte Fragen treiben sie um. Antworten gibt es eher nicht. Um die darf sich der Leser selbst bemühen. Gekonnt verstärkt Kallio den Spannungsbogen, indem sie zum Beispiel nach dem allerersten Telefongespräch der beiden Katariinas sich mit der emotionalen Reaktion darauf sehr, sehr viel Zeit lässt, so dass der Leser schon dadurch so tief in die Geschichte hineingezogen wird, dass es kaum möglich ist, das Buch aus der Hand zu legen.

Katja Kallio, geboren 1968, ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen Finnlands. Zwei ihrer erfolgreichsten Romane sind fürs Kino verfilmt worden. Sie lebt in Helsinki. „Die Zeit der Zugvögel" ist ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman.

 

# Katja Kallio: Die Zeit der Zugvögel. (aus dem Finnischen von Alexandra Stang); 347 Seiten; Krüger Verlag, Frankfurt; € 16,95

ATTO IDE

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 785 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de