KIM LEINE: "DIE UNTREUE DER GRÖNLÄNDER"

Ostgrönland, eine Siedlung an einem Fjord, gut acht Monate im Jahr dunkel mit Eis und Schnee und überfallartigen Stürmen: hierher verschlägt es den 34-jährigen Jesper. Der Sanitäter soll die Krankenstation leiten, die einzige medizinische Versorgung weit und breit. Nur schwere Fälle bringen Hubschrauber oder Schiffe ins ferne Krankenhaus - wenn das Wetter es zulässt.

Jesper und sein neuer Lebensmittelpunkt stellen denn auch den Verbindungspunkt für diesen kleinen Kosmos und seine Geschichten in dieser unwirtlichen Region dar, den der dänische Erfolgsautor Kim Leine in seinem Roman "Die Untreue der Grönländer" beschreibt. Der junge Mann aus Kopenhagen weiß nicht, auf was er sich da eingelassen hat, und die Fremdheit findet zunächst Ausdruck in seinen Mails, der einzigen Verbindung in die Heimat. Es ist ein nacktes baumloses und eintöniges Land und neben der Kargheit ist es vor allen die ständige Kälte, die Melancholie und Macken kräftig fördert.

Die Einheimischen aber sind scheinbar wenig zu beeindrucken von diesen Belastungen und von Lebensverhältnisse, die teils erschreckend primitiv bis menschenunwürdig sind. Manche der Hütten sind kaum ordentlich beheizbar und immer wieder zerfällt eine oder muss abgerissen werden. Mit grantigem Eigensinn stemmen sich die Menschen jedoch gegen die Härten dieses Lebens, die Männer meist mit rauem Stursinn und allerhand Alkohol, die Frauen mit ebenso hoher Leidensfähigkeit wie zuweilen brachialem Selbstbewusstsein.

Alle hier leben promiskuitiv vor sich hin, doch die Frauen geben dabei den Ton an. Romantik ist dabei offenbar ungrönländisch, vielmehr neigen viele von ihnen zu einem geradezu brutalen Paarungsverhalten. Nicht nur die Freizügigkeit verblüfft Jesper, auch bei seiner Affäre mit der minderjährigen Sara erlebt er einen typischen Verlauf mit schnellem Einstieg und abruptem Ende ohne Begründung oder gar Erklärung.

Da mag die Bemerkung der verheirateten Katherine beim Vorspiel typisch sein: "Mein Mann ist nicht normal, er kann es einfach nicht ertragen, wenn seine Frau sich amüsiert." Doch auch hier gibt es tragische Beziehungen, wenn sich der Familienvater Sejer in die narbengesichtige Justine verliebt und nichtsahnend mit der HIV-Infizierten verkehrt. Oder wenn ein junges Mädchen unter Jespers Händen an einer zu spät erkannten Eileiterschwangerschaft stirbt.

Ohnehin werden die Herausforderungen für ihn immer unerträglicher, denn nicht nur Eintönigkeit und arktische Stürme setzen ihm zu. Auch die ärztlichen Einsätze bis hin zum Zahnziehen und Versorgen von amputierten Gliedern machen ihn so fertig, dass er nach dem späten Winterende und einem Reigen mit beinah täglichen wechselnden verheirateten Grönländerinnen entnervt kündigt und forteilt. Bis dahin allerdings haben er wie die Leser außer dem geradezu atavistischen Beziehungsverhalten auch manch packende Episode erlebt vom Jäger, der beinahe mitsamt der erlegten Robbe im Eis umkommt, bis hin zu Salomons kauzigem Disku- und Kinobetrieb.

Die Träume dieser Menschen sind so einfach, wie ihr Umgang mit den spartanischen Lebensumständen stoisch ist. Für Jesper aber wird die wirre Melange aus Tradition und Einsprengseln moderner Zeiten zu einem Albtraum, in dem ihm die Grönländer ebenso rätselhaft bleiben wie dem Leser. Wie sie denken und fühlen, man ahnt es allenfalls und ist dennoch mit jeder Zeile mehr gefesselt, denn Kim Leine weiß in seiner schnörkellosen Sprache großartig zu erzählen und seine Figuren sind bei aller Fremdheit echte Typen, skurril, kantig und oft von grantigem Humor und Trotz beseelt. Fazit: ein ebenso ungewöhnliches wie großartiges Stück Literatur.

 

# Kim Leine: Die Untreue der Grönländer (aus dem Dänischen von Ursel Allenstein); 333 Seiten; Marebuchverlag, Hamburg; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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