ELISABETH HERRMANN: "ZEUGIN DER TOTEN"

Elisabeth Herrmanns neuer Roman "Zeugin der Toten" beginnt in einem DDR-Kinderheim in Saßnitz auf Rügen, wo nachts unter mysteriösen Umständen ein fünfjähriges Mädchen eingeliefert wird, während ein anderes spurlos verschwunden ist. Man schreibt das Jahr 1985 und aus der kleinen Christel wird Judith Kepler.

Als nächstes begegnen wir der jetzt 33-jährigen Judith in Berlin, wo sie einer ungewöhnlichen Beschäftigung nachgeht: sie arbeitet als sogenannte Cleanerin für die Reinigungsfirma von Klaus Dombrowski. Derartige Spezialisten werden eingesetzt, um Tat- oder Fundorte zu "entwesen", also zu reinigen und die Wohnungen sauber zu hinterlassen. Ein harter Job, der nach schweren Verbrechen wie auch bei spät gefundenen sonstigen Toten starke Nerven und eine sehr eigene psychische Verfassung erfordert.

Judith hat sich das nicht wirklich ausgesucht, doch nach zehn Jahren Kinderheim als angebliche Hinterlassenschaft einer verkommenen Alkoholikerin und nach Jahren als Junkie war dieser Job beim raubeinigen aber väterlichen Dombrowski ihre letzte Chance. Und sie ist eine der Besten, privat aber lebt sie als einsame Wölfin. Bis sie zu einer Wohung in Marzahn gerufen wird, eine junge Frau wurde brutal ermordet. Ein Zufall spielt ihr dort einen Umschlag mit einer Akte in die Hände, adressiert an die Tote namens Christina Borg, Absender das frühere Juri-Gagarin-Kinderheim in Saßnitz und Inhalt - Judiths eigene Akte aus dem Heim.

Zum Schock kommt kurz darauf eine mysteriöse Begegnung in der Wohnung der Ermordeten, wo ein ominöser Techniker gerade eine versteckte Kamera abmontiert. Wer hatte ein Interesse an Christina Borgs Überwachung und was hatte die Tote mit Judiths Vergangengeit zu tun? Als sie nun intensiv nachzuforschen beginnt, um die Gründe ihrer Abschiebung in das Heim mit seinen menschenunwürdigen Drangsalen herauszufinden, scheint sie unbekannten Mächten auf die Zehen zu treten.

Was sich in einer Nebenhandlung mit dem ehemaligen BND-Spitzenagenten Quirin Kaiserley bereits andeutet, entfaltet sich immer mehr vom hochkarätigen Krimi zu einem fesselnden Politthriller. Wobei es weniger wilde Action ist, die hier für Hochspannung sorgt als vielmehr die Doppelbhödigkeit mit immer neuen Wendungen. Judiths Schnüffelei scheucht dunkle Mächte auf, die auch 20 Jahre nach dem Mauerfall ebenso panisch wie rabiat reagieren, als Machenschaften aufzufliegen drohen, die Geheimdienste und alte Stasi-Seilschaften hüten.

Es geht um nicht weniger als jene legendären "Rosenholz-Dateien", mit denen durch einen ungeheuerlichen Geheimnisverrat 1985 die Klarnamen sämtlicher DDR-Spione an die westlichen Dienste geschleust werden sollten. Erst nach der Wende gelangten die Dateien tatäschlich zur CIA und als der BND sie endlich ausgehändigt bekam, fehlte die gesamte Registratur La-Li. Was aber 1985 geschah, die ausgetüftelte Aktion auf Rügen, die Quirin Kaiserley aus dem Ruder lief und eine ganze Familie das Leben kostete - sie gerät nun in den Fokus dieses grandiosen und absolut filmreifen Thrillers.

Wie das lebensgefährliche Katz-und-Maus-Soiel der Geheimdienste bis in die Gegenwart mit der für die Opfer zynischen Feststellung "Es ging um die Interessen des Landes" begründet wird, das gibt dem exzellent recherchierten Zeit- und Lokalkolorit seine Authentizität. Doch auch die ungekünstelte und gleichwohl virtuose Sprache wie auch das glaubhaft gestaltete Personentableau bestechen. Fazit: dieser Roman hat die Güteklasse von John le Carrés Klassiker "Der Spion, der aus der Kälte kam", nur dass er noch realistischer wirkt.

 

# Elisabeth Herrmann: Zeugin der Toten; 428 Seiten; List Verlag, Berlin; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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