MERLE HILBK: "TSCHERNOBYL BABY"

Von geradezu makabrer Aktualität ist Merle Hilbks Buch "Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben", denn entgegen dem etwas seltsamen Titel handelt es sich hier um unter die Haut gehende Reiseberichte aus der Region um das berühmt-berüchtigte Atomkraftwerk in der heutigen Ukraine.

In der anhängenden Zeitleiste heißt es: "26. April, 01.23.44 Uhr: Es kommt zur überkritischen Leistungssteigerung. Innerhalb von vier Sekunden erreicht Block 4 das Hundertfache seiner Nennleistung." In der Folge explodiert der Atomreaktor und schleudert seinen hochgiftigen Inhalt so hoch in den Himmel, dass die radioaktiven Wolken ihn über weite Landstriche der Sowjetunion und bis nach Schweden und Westeuropa tragen.

Das war vor fast genau 25 Jahren und noch heute warnen die Schilder an der 30 km-Sperrzone um den Unglücksreaktor vor dem Betreten der verseuchten Gegend. Doch Merle Hilbk, eine russlanderfahrene Journalistin, stellte bei ihren Erkundungsreisen 2008 und 2009 mit Erstaunen fest, dass von einem menschenleeren Areal durchaus nicht die Rede sein kann. Dabei hatte die 42-Jährige eine typisch deutsche Sozialisation mitgemacht, als sie mit dem deutschen Entsetzen über den atomaren Super-GAU und seine vor allem psychologischen Auswirkungen aufwuchs und mit ihrer Generation zu Kritikern der Kernkraftnutzung wurde.

Vor Ort in den umliegenden Gegenden, die ebenso wie die Sperrzone teils auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, teils auf dem von Belarus (ehemals Weißrussland) liegen, aber auch innerhalb des AKW-Areals hat die Autorin manch verblüffende Erfahrung gemacht. Da gab es einige tausende Arbeiter, die noch heute an dem längst abgeschalteten AKW-Komplex beschäftigt sind, aber ebenso Bewohner eines Dorfes mittendrin oder spinnerte Abenteurer, die dort Paintball spielen.

"Das mit dem Atomunfall ist doch schon so lange her", sagen die Einen, während Andere sogar als Fremdenführer der besonderen Art Exkursionen durch die Sperrzone anbieten - für westliche Ausländer, 200 Dollar das "Zonenpaket". Doch auch Merle Hilbk findet ihre kundigen Führer, die sie auf Schleichwegen in das "Radioökologissche Naturschutzgebiet" bringen. Sie gelangt nach Pripjat, die ehemalige sozialistische Modellstadt gleich neben dem AKW, damals hatte die heutige Geisterstadt 50.000 Einwohner und die wurden trotz extremer Belastung erst mit Tagen Verspätung evakuiert.

Es sind jedoch weniger die zuweilen skurrilen Lebensweisen etlicher Zeitgenossen, die mit oder auch in der Sperrzone leben, es sind die Berichte echter Betroffener wie auch der teils staatlich verordnete Umgang mit den Zuständen, die unter die Haut gehen. Sie reden nicht über den GAU und das Unwissen vieler über die tatsächlichen Vorgänge steht in unfassbarem Gegensatz zu dem jener zehntausenden deutschen Atomkraftgegnern. Es wurde hundertmal mehr Radioaktivität freigesetzt als über Hiroshima, doch man ließ die vor Ort unmittelbar Getroffenen sogar in dem Glauben, ein kräftiger Schluck Wodka könne von der Verstrahlung reinigen.

Um so schlimmer treffen Aussagen wie die des Elektro-Ingenieurs Dzemula, der als Augenzeuge im AKW eine hohe Strahlendosis abbekam, jedoch wie so viele nie nennenswerte Hilfe erhielt. Und es wird klar, dass viele der tausende von Helfern, die direkt nach der Havarie am Unglücksort eingesetzt wurden, wussten oder ahnten, dass das tödlich sein würde. Und es regt auf, wenn man von all den unterlassenen Hilfeleistungen gegenüber den zehntausenden körperlich und materiell schwer Geschädtigten von staatlicher Seite liest. Man erklärte die Helfer zu Helden und ließ sie dann mehr oder weniger verrecken.

Mag Japan auch anders mit seinen Menschen umgehen, der Schrecken lässt sich auch nach dieser atomaren Katastrophe ahnen, liest man von schönen verwaisten Landschaften, in denen auch nach 25 Jahren noch überall der schleichende Tod lauert, von Seen, in denen das Baden extrem gesundheitsgefährdend wäre und man dem Hörensagen auch von erschreckend mutierten Fischen angefallen werden könnte.

Und wenn manche Informationen ungenau erscheinen - die umfangreichen Dokumentationen verschwanden auf Nimmerwiedersehen in Sowjetarchiven. Etwas sehr genaues aber erhielt Merle Hilbk ganz offiziell, eine kleinteilige Karte vom Grenzgebiet Belarus/Ukraine, auf der jede kleine Ansiedlung verzeichnet ist. Unter jedem Ortsnamen steht entweder "lebendig" oder "tot": es ist die Bestattungskarte von Tschernobyl...

 

# Merle Hilbk: Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben; 276 Seiten, div. Abb.; Eichborn Verlag, Frankfurt; € 17,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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