LEOPOLDO BRIZUELA: "NACHT ÜBER LISSABON"

„Ich arbeite weniger mit den historischen Fakten als mit den Geschichtsbildern, die wir haben. Das ist etwas anderes." So beschreibt der argentinische Schriftsteller Leopoldo Brizuela seinen neuen Roman „Nacht über Lissabon". Dabei hat er sich für das Buch eine Nacht ausgewählt, die wie in einem Brennglas eine ganze Epoche repräsentiert.

Es ist der 18 November 1942 in Lissabon. Portugal hat von den Briten ein Ultimatum erhalten, in den Krieg einzutreten. Machthaber Salazar zögert. Gleichzeitig droht der Einmarsch der Nazitruppen. In dieser aufgeladenen Atmosphäre ist die portugiesische Hauptstadt angefüllt mit Flüchtlingen und Gestrandeten aus ganz Europa. Sie alle warten auf eine Möglichkeit, den kriegsgeschüttelten Kontinent verlassen zu können.

Eine einzige Nacht im Hafenviertel von Lissabon auf 725 Seiten: minutiös beschreibt Brizuela die Irrungen und Wirrungen einer bunt zusammen gewürfelten Gesellschaft, die diese Nacht gemeinsam und miteinander verbringt. Alle warten auf das Auslaufen der "Boa Esperanca", die sie aus Europa herausbringen soll. Das Schiff ist mit argentinischem Weizen ins hungernde Portugal gekommen und soll für die Rückreise Flüchtlinge nach Argentinien aufnehmen.

So kreisen dann die Gespräche der Wartenden in dieser Nacht um die weltpolitische Lage, den argentinischen Tango und den portugiesischen Fado. Gleichsam bildhaft stellen diese beiden Ausdrucksformen der Musik die Stimmung in dieser Nacht dar, in der alles auf der Kippe zu stehen scheint: der Tango als „ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann" und der Fado als „melancholische Asche der Erinnerung".

Wer sind sie, die Personen, deren Lebensläufe sich in dieser schicksalsschweren Nacht in der diplomatischen Vertretung Argentiniens und im Nachtlokal "Gondarem" am Rande des Hafens kreuzen und verbinden? Da ist der außerordentliche Konsul Argentiniens Dr. Eduardo M. Cantilo. Er hat die Hilfslieferung auf der Boa Esperanca organisiert. Welche Pläne er damit sonst noch verfolgt, bleibt lange im Dunklen.

Auch die Rolle des Konsulatssekretärs Dr. Javier Ordonez,, der den Dichter und Tango-Komponisten Enrique Santos Discepolo und seine Frau Tania betreuen soll bleibt zwielichtig. Genau so der „Auserwählte" des Kardinals von Lissabon, Ricardo de Sanctis, der in verschiedenen Rollen und Namen in Erscheinung tritt. Nichts ist eindeutig oder klar in dieser Welt der Flüchtlinge, der Emigranten und der Geheimdienstler, deren Pläne und Motive notgedrungen doppelbödig und undurchschaubar sein müssen.

So bildet auch die Stadt, in der diese auf eine einzige Nacht und einen Ort konzentrierte Handlung sich abspielt, einen idealen Rahmen für das Schicksal der dort Gestrandeten. Ebenso, wie ihnen Deportation und Tod drohen oder die Freiheit winkt, sind die Stadt und das Land zum Spielball größerer Mächte geworden, die ihre eigenen Interessen verfolgen und durchsetzen.

Besser noch als der deutsche gibt der spanische Titel „Lisboa. Un melodrama" die Stimmung dieses Romans wieder, der weniger mit viel Handlung als mit seiner dichten Athmosphäre und dem vielfältigen Personentableau überzeugt. Wer sich auf diese Reise in das Innere der handelnden Personen einlässt, wird dafür mit stilvoller Literatur belohnt.

 

# Leopoldo Brizuela: Nacht über Lissabon. (aus dem Spanischen von Thomas Brovot); 725 Seiten; Insel Verlag, Berlin; € 24,90

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