RANA DASGUPTA: "SOLO"

‚Held’ des Romans "Solo" von Rana Dasgupta ist der fast hundertjährige Ulrich, der blind und hilflos, von seinen Nachbarn mit dem Nötigsten versorgt, in einer Plattenbauwohnung in Sofia mehr dahinvegetiert als lebt. In Rückblicken lässt er sein langes Leben Revue passieren und enthüllt damit gleichzeitig, wie sehr sein Leben bestimmt worden ist von den zeitgeschichtlichen Ereignissen des gesamten 20. Jahrhunderts.

Geboren als Sohn eines Eisenbahningenieurs, der am Bau der Bagdad-Bahn beteiligt ist, beginnt sein Leben sehr hoffnungsvoll. Seine erste große Leidenschaft gilt der Musik. Der Traum, ein berühmter Violinist zu werden, wird jedoch brutal von seinem Vater zerstört. Seine zweite Leidenschaft, die Chemie, darf er länger ausleben. Sein Studium führt ihn in das Berlin der zwanziger Jahre und lässt ihn dort eine Zeit der Freiheit und der persönlichen Entfaltung erleben, wie nie wieder in seinem Leben.

Doch auch dieses Leben scheitert. Sein Vater ist als Krüppel aus dem Weltkrieg zurückgekommen und die Lage seiner Familie zwingt Ulrich, sein Studium abzubrechen und nach Bulgarien zurückzukehren. Kurz nach seiner Rückkehr wird sein enger Jugendfreund Boris hingerichtet, weil er in einen kommunistischen Putschversuch verwickelt ist. Und auch Ulrichs Ehe mit Boris’ Schwester Magdalena ist nicht von Dauer. Sie verlässt ihn, geht nach Amerika und Ulrich sieht sie und und den gemeinsamen Sohn nie wieder.

Auch im und nach dem zweiten Weltkrieg bleibt er ein hilfloser Spielball der neuen Kräfte im inzwischen kommunistischen Bulgarien. Unterdrückung, Bespitzelung sowie eine fehlgeleitete Industrialisierung bestimmen sein weiteres Leben. Selbst der Zusammenbruch des Ostblocks Anfang der neunziger Jahre bringt für ihn keine Befreiung, sondern eine nochmalige Verschlechterung seiner Lebensumstände, die ihn dann nach dem Tod seiner Mutter in die schäbige Plattenbauwohnung führen, in der er den Rest seines Lebens fristet.

An dieser Stelle könnte die Schilderung beendet sein und sie wäre eine ebenso bedrückende wie beeindruckende zeitgeschichtliche Darstellung eines Jahrhunderts voller ideologischer Experimente und deren Auswirkungen auf die Träume und Hoffnungen der Menschen, die ihnen ausgesetzt waren. Doch Dasgupta geht noch weiter. In einem zweiten Teil entwirft er eine komplette Welt der gelebten Träume und der erfüllten Hoffnungen, die allerdings nur in Ulrichs Tagträumen entsteht.

In einem erzählerischen Bruch führt der Autor völlig neue Personen und Handlungen ein, die seine Tagträume bevölkern. Da ist Chatuna, eine junge selbstbewusste Georgierin, die zunächst Karriere macht bei den Gangstern der Nachwendezeit in Bulgarien, später nach New York geht und dort ihre Karriere fortsetzt. Ihr Bruder Irakli ist ein begabter Dichter und dessen Freund Boris startet eine Weltkarriere als Geiger. In dieser glitzernden Welt zwischen Jet-Set und Musikproduzenten träumt sich Ulrich in die Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in der Begabungen ausgelebt werden können und Träume wahr werden.

Für den Leser ist der radikale Umbruch in der Mitte des Romans allerdings nur schwer nachzuvollziehen. Fast beziehungslos stehen zwei eigenständige Geschichten in diesem Roman nebeneinander, lediglich verbunden durch die Person des Ulrich. Ist seine Lebensgeschichte schon bedrückend genug, bilden seine Träume lediglich einen noch größeren Kontrast zu seinem realen Leben, tragen aber nur begrenzt dazu bei, sein reales Leben etwa aus anderer Perspektive neu zu betrachten. Und die Frage, ob der Roman ohne diesen zweiten Teil ebenfalls vollständig oder vielleicht sogar besser wäre, muss wohl mit ‚ja’ beantwortet werden.

Der indisch-stämmige Autor Rana Dasgupta wurde 1971 in Canterbury, England geboren. 2006 erschien sein erstes Werk „Die geschenkte Nacht". Für „Solo" wurde er 2010 mit dem Commonwealth Writer’s Prize ausgezeichnet. Er lebt als freier Autor in Neu Delhi.

 

 

# Rana Dasgupta: „Solo" (aus dem Englischen von Barbara Heller); 464 Seiten; Karl Blessing Verlag, MÜnchen; 21,95

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