CHRISTOPH SCHOLDER: „OKTOBERFEST"

Man stelle sich einmal vor: 70.000 Geiseln in der Hand einer kampferprobten Eilite-Einheit, die ein Exempel von entsetzlichem Ausmaß statuiert hat und von einem hilflos reagierenden Staat ein gigantisches Lösegeld erpresst. Genau das ist der Inhalt von Christoph Scholders virtuosem Debütroman „Oktoberfest".

Schon der Prolog zu diesem atemberaubenden Politthriller zeigt die eiskalte Härte, mit der die späteren Geiselnehmer ihre Ziele angehen. Wenn dann der erste festsonntag auf den Münchner Theresienwiesen heraufzieht, hat die 90-köpfige Truppe von Generalmajor Oleg Blochin längst generalstabsmäßig ihren genialen Coup vorbereitet. Kühl bis ins letzte Detail ist alles durchgeplant von der Beschaffung der Spezialausrüstung bis hin zum Einsatz der vermeintlich fleißigen Aufbauarbeiter, denen ein ahnungsloser Oktoberfest-Macher den Aufbau der Wiesenzelte anvertraute.

Nun sind sämtliche Zelte mit versteckten Leitungen für den Gaseinsatz versehen und unverdächtig erscheinende Sattelschlepper haben hochkarätige technische Ausrüstung bis hin zu Flugabwehrraketen aufs Gelände gebracht. Um 17:56 Uhr beginnt das zynisch als Operation „Freibier" überschriebene größte Attentat aller Zeiten, als der ebenso eiskalte wie perfekt planende Blochin den Befehl gibt, das Betäubungsgas im Benediktiner-Zeit mit seinen 5.000 Gästen freizusetzen. Kurz darauf gehen beim Oberbürgermeister, im Polizeipräsidium und beim Ministerpräsidenten Faxschreiben ein, die das gesamte Oktoberfest – mit zu dieser Zeit rund 70.000 Besuchern in sämtlichen Zelten – zur Geisel erklärt.

Der Leser hat im souverän aufgebauten Vorlauf längst erfahren, zu was diese russische Speznas-Spezialeinheit mit ihren intensiven Kampferfahrungen aus Afghanistan und Tschetschenien in der Lage ist. Gelenkt von kühlen, mitleidlosen Köpfen bewegt sie schlichtweg Rache. Ausgelöst durch den Zerfall der Sowjetunion als Weltmacht, auf die sie eingeschworen waren und für die sie loyal gekämpft haben – um nun in einem Rest-Russland mitansehen zu müssen, wie ihre einst schimmernde Wehr ebenso verkommt wie das gesamte System. Rache wollen sie nun in Form von Genugtuung durch zwei Milliarden Euro, zahlbar in rund 150 Kilogramm Rohdiamanten.

Die fassungslosen Staatsorgane in Bayern und Berlin reagieren hilflos und die einzige wirkliche Hoffnung liegt in der Person von „Poseidon", einem Mann, den es offiziell gar nicht gibt und nicht einmal der Bundeskanzler wusste bisher, dass dieser Spezialagenten der geheimen Abteilung „A & O" beim MAD existiert. Dieser Kapitän zur See Wolfgang Härter mit den besonderen Vollmachten steht auf keiner Personalliste und ist damit genau jener gefährliche unbekannte Gegenspieler, den der geniale Blochin nicht in seine sonst so präzise vorausschauenden Pläne einkalkuliert hat.

Doch noch bevor Poseidon sich in Position bringen kann, drehen Sicherheitskräfte in völliger Verkennung des Gegners durch und versuchen gewaltsam, ein Zelt zu evakuieren. Mit entsetzlichen Folgen, denn in diesem Zelt werden nun die Ventile für ein teuflisches Giftgas geöffnet und die 2.000 Menschen darin kommen in einem grauenhaften Schreckensszenario um. Fassungslosigkeit und Panik ergreifen nicht nur München und das lähmende Entsetzen steigert sich noch, als die legendäre GSG 9 eine Unterwanderungsaktion versucht und keiner der 20 Spezialkämpfer die clever vorbereiteten Fallen der Geiselnehmer überlebt.

Nur Poseidon kann entkommen und er mobilisiert nun die Gebirgsjäger des Generals Moisadel. Zugleich lässt sich der Bundespräsident gegen zwei verletzte Geiseln austauschen – in Begleitung der jungen Journalistin der bundesweit größten Boulvardzeitung, die zuvor bereits mit ihren Schlagzeilen die Stimmung im Land zusätzlich angeheizt hat. Der Präsident ist es dann, der erfährt, dass die Blochin das Oktoberfest aus rein sachlichen Erwägungen im Ausschlussverfahren ausgesucht hat. Man brauchte einen Staat mit Militär ohne Kampferfahrung, also „ein Land von wohlhabenden Weicheiern".

Es kommt tatsächlich zur Übergabe der Rohdiamanten und selbst die Flucht ist höchst professionell geplant – mehr aber soll nicht vom Finale verraten werden, das es noch einmal richtig in sich hat. Poseidon jedenfalls erweist sich als ein souveräner Gegenspieler Blochins, wobei er als „Herr Müller vom BKA" eine an James Bond erinnernde Rolle einnimmt. Das jedoch ist hier außerordentlich realistisch dargestellt, wie der Autor ohnehin mit kühler Präzision und hervorragend recherchierten technischen und militärischen Details für eine erschreckend glaubhafte Geschichte gesorgt hat.

Eine raffinierte Dramaturgie und die knappe sachliche Sprache erzeugen bis zuletzt Hochspannung und als gelernter Psychologe hat Christoph Scholder auch ein stimmiges Personaltableau geschaffen. Fazit: ein packender Politthriller aus deutschen Landen auf Weltniveau und dringend zur Verfilmung zu empfehlen.

 

# Christoph Scholder: Oktoberfest; 604 Seiten; Droemer Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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