JENNIFER HAIGH: „AUFTAUCHEN"

1976 fängt es damit an, dass bei der vermeintlichen Vorzeigefamilie McKotch alles auseinanderbricht. Schon lange haben sich Risse gebildet zwischen Frank, dem überehrgeizigen Wissenschaftler am berühmten Massachusetts Institute for Technology, und seiner Frau Paulette, aus sogenannter guter New England-Familie und ebenso dünkelhaft wie verklemmt. Freude macht der 14-jährige Billy, wohlerzogen und mit besten Anlagen, wogegen Nesthäkchen Scott ein hyperaktiver Rabauke ist, der sich ungeliebt fühlt.

Auslöser von Ehekrieg und Scheidung aber ist Gwen, mit fast 13 noch immer von kindlicher Erscheinung und ohne jedes Anzeichen von Pubertät. Als endlich ein Arzt konsultiert wird, kommt die schockierende Diagnose: das Mädchen hat das Turner-Syndrom, einen Gen-Defekt, bei dem eines der beiden X-Chromosome beschädigt ist oder fehlt. Diese Fehlbildung, die etwa bei jeder 2500. Geburt vorkommt, hat dauerhafte Folgen, wobei die gravierendsten die Kleinwüchsigkeit und die ausbleibende Pubertät sind.

Wird das Turner-Syndrom frühzeitig entdeckt, helfen Hormonbehandlungen zu halbwegs normalem Wachstum. Während es gegen die Unmöglichkeit von Schwangerschaften kein Mittel gibt, sind Intelligenz und Lebenserwartung nicht von der Anomalie betroffen. Die Erkenntnis des nicht Normalen bei Gwen aber setzt unterdrückte Emotionen zwischen Frank und Paulette frei, die nun unüberbrückbare Gegensätze offenlegen, wenn der emotionslose Wissenschaftler die bestmögliche medizinische Behandlung anstrebt, Paulette aber ihr kleines Mädchen unangetastet behalten und das Anderssein einfach nicht akzeptieren will.

Das ist der fulminante Auftakt zum neuen Roman von US-Autorin Jennifer Haigh unter dem Titel „Auftauchen", der von der der ersten bis zur letzten Zeile gefangennimmt. Allerdings entfaltet sich hier weniger ein Familiendrama um Gwen, vielmehr ist ihre Besonderheit nur ein Dreh- und Angelpunkt, denn nun springt das Geschehen in das Jahr 1997 und jedes der fünf Familienmitglieder findet sich in einer anderen Situation wieder. So meisterhaft wie die höchst authentischen Charaktere gelingen nun auch die Reflektionen der Protagonisten, jeder aus seiner Perspektive, aber alles exzellent miteinander verwoben.

Die beklemmendste Schilderung ist dabei Gwens Erinnerung an die Leiden der ausbleibenden Pubertät, als rundherum die Mitschülerinnen beginnen, Büstenhalter zu benötigen und Busen zum Symbol all dessen werden, was sie nie haben würde. Später hat sie ein flüchtiges sexuelles Erlebnis, nach dem sie sich jedoch noch mehr gegen jedermann verschließt und in ihrem Job in einem Museum vergräbt. Bis sie mit 34 Jahren einen Tauchurlaub in der Karibik macht und entgegen alle Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten in eine leidenschaftliche und beglückende Affäre mit dem einheimischen Tauchlehrer Rico gerät.

Dieses Tauchen wird zugleich zur sensiblen Metapher für Gwens bewegende Selbstfindung. Doch die Autorin schürt in ihrer eleganten Dramaturgie gerade durch die knappen Passagen um Gwen den Hunger auf deren weitere Entwicklung und macht diese dadurch zum Juwel in einer ganzen Sammlung von Schmuckstücken, denn als solche erweisen sich auch die Passagen der anderen Familienmitglieder. Schicht um Schicht werden deren Eigenheiten aufgedeckt und es prägen sich Bilder von beeindruckender Stimmigkeit. Wie Vater Frank sich schwer tut mit Gefühlen und Bindungen, während die Mutter immer mehr als egozentrische Glucke erkennbar wird, die vor Intrigen nicht zurückschreckt, wenn es um „ihre" Gwen geht.

Der allseits beliebte und zum erfolgreichen Arzt gewordene Billy verbirgt fast bis zuletzt ein quälendes Geheimnis und Scott erlebt als wenig geschätzter Chaot auch nach der Flucht von zuhause nur die Fortsetzung seiner Misere. Wenn sich die Familie trotz aller Gegensätze schließlich noch einmal – nur fast vollzählig – versammelt, haben sich längst alle unheilbar aneinander wundgescheuert. Wenn dieser große, vielfältige Roman dennoch nicht mit Düsternis und Bitterkeit ershclägt, so ist dies dem trotz allem beinah leichtfüßigen Stil von Jennifer Haigh zu verdanken.

Fundiert in medizinischen und psychologischen Feinheiten funkeln da zugleich manche Sätze vor Geist und Schönheit und das dank der hervorragenden Übersetzung auch auf Deutsch. Die tiefe Menschlichkeit des Erzählens sowie dessen fesselnde Intensität statten diesen Roman mit einer solchen Fülle aus, dass man ihn unbedingt noch einmal lesen möchte, um so manche Vielschichtigkeit und manch raffiniert geknüpften Zusammenhang noch genauer zu erfassen. Fazit: ein Meisterwerk und ein großes anspruchsvolles Lesevergnügen.

 

# Jennifer Haigh: Auftauchen (aus dem Amerikansichen von Christine Frick-Gerke); 521 Seiten; Droemer Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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