NEAL STEPHENSON: „ANATHEM"

Die Werke des US-Kultautors Neal Stephenson sind nicht nur gewaltig von Umfang und Detailversessenheit, sie sind stets auch intellektuelle Herausforderungen. Nachdem seine Barock-Trilogie als grandioser Wissenschaftsthriller aus der Epoche zu Beginn der Neuzeit den Siegeszug der Naturwissenschaften thematisierte, steigert er sich mit „Anathem" erneut, denn hier erfindet er gleich einen ganzen Planeten mit einer kompletten, mehrtausendjährigen Wissenschaftsgeschichte.

Anathem" ist abgeleitet vom englischen „anthem" für Hymne und dem griechischen „anathema", dem Kirchenbann. Tatsächlich steht im Mittelpunkt des in einigen Zügen erdähnlichen Planeten Arbre der etwa 19-jährige Erasmas als Avot. Damit ist er eine Art Wissenschaftsmönch, der in einer klosterähnlichen Anlage lebt, wo Religionen im üblichen Sinne keine Rolle spielen, denn hier beschäftigt man sich ausschließlich und unter strengen Regeln mit dem, was zeitlos gültig ist, also Philosophie, Mathematik und theoretische Physik.

Das Alles geschieht unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit, denn im Laufe der Jahrtausende haben sich die Lebensweisen der mathischen – also wissenschaftlichen – und der säkularen Bewohner von Arbre sehr weit auseinanderentwickelt. In der Draußen-Welt hat es Blüten und Niedergänge, viele Wandel, aber auch drei gewaltige „Verheerungen" gegeben, und es ist viel an wertvollem Wissen untergegangen. Nun aber schreibt man das Jahr 3690 A.R. und eine sogenannte Apert steht bevor, wenn sich alle zehn, 100 oder 1000 Jahre für kurze Zeit die Tore des klosterartigen Ghettos der Bewahrer und Denker für den Austausch von Waren, Wissen und Menschen geöffnet werden.

Doch diese Apert, der Erasmas mit seinem Lehrer Fraa Orolo entgegengefiebert hat, wird von ungewöhnlichen Geschehnissen überschattet und die gipfeln darin, dass die säkularen Machthaber außerhalb der Mauern sogar zu verschleiern versuchen, dass außerarbrische Elemente aufgetaucht sind und den Planeten bedrohen. Astronom Orolo aber erkennt durch bloße theoretische Meditation die Gefahr und dann ist es Erasmas, der für eine abenteuerliche Rettungsaktion auserwählt wird.

Schmökerfreunde seien jedoch gewarnt, denn was sich hier so Science-Fiction-mäßig anhört, ist im Wortsinne Wissenschaftsfiktion und entfaltet sich weit komplizierter als übliche Geschichten über fremde Universen und außerirdische Wesen. Mit der ihm üblichen Detailflut wird jedes Phänomen erörtert und Stephenson hat dazu eine einzigartig gelungene Parallelwelt erfunden, die auf einer 7000-jährigen Geschichte beruht und ein ungeheures, sehr eigenes Wissen entwickelt hat. Das geht bis zu umfassenden Wortschöpfungen und Bedeutungsverfremdungen. Um dem in befriedigender Weise folgen zu können, empfiehlt sich unbedingt, ein Lesezeichen in den unverzichtbaren Glossar am Ende des monumentalen Werks zu legen.

Ob der Aufwand lohnt? Wer ein ebenso lebendig wie hochintelligent geschriebenes Buch mit einer unablässigen Fülle von Denkherausforderungen und einer leidenschaftlichen Hingabe an die Naturwissenschaften zu schätzen weiß, findet hier – nicht zuletzt auch dank einer vorzüglichen Übertragung - ein großes, faszinierendes Lesevergnügen, das sehr lange nachhallt.

 

# Neal Stephenson: Anathem (aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller); 1024 Seiten; Manhattan Verlag, München; € 29,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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