JOHN IRVING: „LETZTE NACHT IN TWISTED RIVER"

Früh hat Daniel Baciagalupo seine Mutter durch ein vom Vater leichtsinnig verursachten Unfall verloren. Nun schreibt man das Jahr 1954, Danny ist zwölf und lebt mit seinem gehbehinderten Vater Dominic im Holzfällerkaff Twisted River am gleichnamigen Fluss in New Hampshire und immerhin hat das Unglück eines bewirkt: der Koch und Gastwirt trinkt nicht mehr.

Nun aber schlägt das Schicksal erneut zu und diesmal geradezu grotesk und mit endlosen Folgen. Der vorpubertäre Junge hört nächtens verdächtige Geräusche aus dem väterlichen Schlafzimmer und halb im Schlaf fürchtet er um das Leben des Vaters, denn im Halbdunkel sieht er ein riesiges haariges Ungeheuer auf ihm. Den Bewegungen und den urigen Lauten nach ist offenbar ein Bär dabei, den Vater aufzufressen. In seiner Not greift Danny zur gusseisernen Bratpfanne und schlägt todesmutig zu.

Tödlich getroffen rutscht die massige Indianer-Jane vom Bett und im Wortsinne schlagartig gerät das Leben von Vater und Sohn auf eine völlig andere Bahn. Dass aus diesem unschuldigen Verbrechen aber eine jahrzehntelange Odyssee der Beiden wird, liegt daran, dass die verblichene indianische Tellerwäscherin auch die Geliebte des brutalen Dorf-Sheriffs Carl war und der will als fanatisch-bösartiger Rechthaber Rache. Und mit einem solch brachialen Auftakt setzt Erfolgsautor John Irving mit seinem jüngsten Roman „Letzte Nacht in Twisted River" eine Achterbahn in Gang, die alle Ingredienzen aufbietet, die seine Millionen Fans an seinen Büchern so schätzen.

Allerdings war Irving wohl noch nie deartig autobiografisch wie diesmal, denn aus Danny wird ein Alter ego, das als Danny Angel eine fast identische Karriere als Schriftsteller macht und natürlich nicht nur das Geburtsjahr sondern auch andere Lebensdaten und Erfolgsstationen mit ihm teilt. Der gefeierte Danny und sein Vater leben zugleich ständig auf der Flucht und dazu gehören immer wieder wechselnde Identitäten bis hin zu neuen Rezepten für den leidenschaftlichen Koch. Wie diese Beiden zueinanderhalten und der Alte den Jungen bis in den gewaltsamen Tod hinein über 47 Jahre beschützt, das hat seine spezielle Bewandtnis bei jemandem wie Irving, der seinen leiblichen Vater nie kennenlernte und auch einem Halbbruder erst vor einigen Jahren erstmals begegnete.

Aber schräge, unvollkommene Familienverhältnisse, mysteriöse bis absurd erscheinende Wendungen wie auch so manche drastische bis schrille Szenen gehören einfach in einen Irving-Roman. Wie auch die mal knorrigen Typen wie das herrliche Raubein Ketchum – dieser kauzige Holzfäller spielt eine Art lebensweisen Ersatzvater für Danny – oder einmal mehr die gestandenen Frauen, die nicht nur körperlich stark sind von der bärigen Indianer-Jane über die schlampige Sixpack-Pam bis hin zur athletischen Lady Sky. Diese sorgt für eine der aberwitzigsten und wahrhaft saukomischen Passagen des umfangreichen Epos, denn sie landet als Nackt-Fallschirmspringerin ausgerechnet mitten im Schweinekoben – und bleibt Danny so intensiv im Kopf, dass daraus sehr viel später sogar eine Romanze wird.

Dieser Roman mag vielleicht nicht der beste Irvings sein, aber wohl sein persönlichster und auch bissigster, insbesondere in seinem Zorn auf George W. Bush und die politischen Verhältnisse seit dem 11. September 2001. Wie immer bestechen neben den hinreißend gezeichneten Figuren auch die exzellenten Milieuschilderungen. In seiner gewohnt drastischen Sprache fesselt Irving mit dieser Geschichte nicht nur, weil sie gut ist, sondern weil er sie auch ebenso vollblütig wie gefühlvoll erzählt. Fazit: seine Millionen Fans kommen voll auf ihre Kosten, denn noch mehr authentischen John Irving könnte nur eine unmittelbare Autobiographie bieten.

 

# John Irving: Letzte Nacht in Twisted River (aus dem Amerikanischen von Hans. M. Herzog); 732 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 26,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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