CHRISTOPHER ANDREW: „MI 5"

Einen höchst ungewöhnlichen Schritt ging der britische Geheimdienst anlässlich seines 100. Geburtstages im letzten Jahr: er gewährte dem renommierten Geheimdienst-Experten Christopher Andrew tiefe Einblicke in seine Arbeit und seine gewaltigen Archive, damit dieser zwar nicht die offizielle aber immerhin eine autorisierte Biographie der geheimnisumwitterten Behörde schreiben konnte.

Es sei vorweggesagt: der Cambridge-Professor hat daraus ein ebenso faktenreiches und detailliertes wie spannend zu lesendes Werk geschaffen. „MI 5 – Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes" lautet der deutsche Titel, während der Original-Untertitel auf „die Verteidigung des Königreichs" als zentrale Aufgabe hinweist. Und tatsächlich rührte die Gründung des Dienstes im Oktober 1909 her aus der Angst vor den Spionen des deutschen Kaisers Wilhelm II. oder drastischer ausgedrückt, der Angst vor einer Invasion durch die „Hunnen".

Vernon Kell, dem ersten Chef, unterstanden bis zum Beginn der Ersten Weltkriegs ganze 16 Mitarbeiter. Die Behörde wuchs nur langsam und hatte dennoch bereits beachtliche Erfolge mit dem Aufspüren von 65 deutschen Agenten während der Kriegszeit. Die Unterteilung in „Military Intelligence" MI 5 zur Spionageabwehr und MI 6 für die eigene Auslandsspionage (und die Heimat des fiktiven Superagenten James Bond 007!) erfolgte übrigens erst Anfang 1916.

Auch weiterhin blieben Deutsche und Russen Hauptgegner und 1924 enttarnte MI 5 ein erstes sowjetisches Spionagenetz im Königreich. 1936 schließlich war das MI 5 die weltweit erste staatliche Behörde, die auf der Grundlage vor allem von Hitlers „Mein Kampf" vor dessen machtpolitischer Gefährlichkeit warnte. Und 1938 unterrichteten sie Premierminister Chamberlain schonungslos davon, wie falsch die Beschwichtigungspolitik gegenüber dem deutschen Reichskanzler war. Zu diesem Zeitpunkt hatte das MI 5 lediglich 26 Mitarbeiter und dennoch begann schon jetzt die glorreichste Ära des stets selbst innerhalb der jeweiligen Regierungen sehr geheim gehaltenen Dienstes.

Es eröffnen sich nun Einblicke vor allem in die besondere Spezialität des MI 5 mit dem Double-Cross-System, das Vorlage so manchen Agententhrillers wurde. Was vom Prinzip her erstaunlich authentisch war, wenn man von der Vielzahl der „umgedrehten" deutschen Spione liest und ihre wahrhaft ungewöhnlichen Geschichten. Und die Ägide unter MI 5-Chef Sir David Petrie (1941-1946) war nicht nur die glorreichste, sie trug mit zwei kriegsentscheidenden Erfolgen ganz wesentlich zum Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland bei.

Der spektakulärste wurde erst in den 70er Jahren öffentlich gemacht: die gelungene Entschlüsselung einer insgeheim erbeuteten „Enigma", der genialen, als absolut sicher geltenden deutschen Kodiermaschine. Die Deutschen ahnten bis zuletzt nicht einmal, dass die Briten von 1940 an den Funkverkehr der Wehrmacht entschlüsseln konnten. Schon 1941/42 führte das zum Niederringen der bis dato ungemein bedrohlichen deutschen U-Bootflotte. Vermutlich noch wichtiger war dann die Operation „Fortitude", mit der über raffinierte Täuschungsmanöver vor allem durch eine Reihe hochkarätiger Doppelagenten – denen die Nazis erwiesenermaßen bis zur Naivität vertrauten – die wahren Pläne für den D-Day, die Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944, verschleiert wurden.

Entgegen dieser hohen Effizienz tat sich der MI 5 gegenüber der Sowjetspionage ungleich schwerer, wie der Autor an solchen niederschmetternden Fällen wie dem Atomspion Klaus Fuchs, dem sowjetischen Doppelagenten Kim Philby und anderen Maulwürfen im Dienst belegt. Oder aber der Profumo-Skandal von 1963, als dieser Kriegsminister eine Affäre mit dem Callgirl Christine Keeler hatte, das zur selben Zeit mit dem sowjetischen Marine-Attaché Iwanow liiert war. Zwar fand Andrew bestätigt, dass es nie eine Sicherheitsgefährdung dadurch gab, doch an Peinlichkeit war das für die Regierung kaum zu überbieten. Wie diese Labour-Regierung von Harold Wilson offenbar ohnehin ihre Probleme in den eigenen Reihen hatte, wie die spätere Enttarnung eines Ministers als tschechischem Agenten bewies.

Ein großer Befreiungsschlag gelang erst 1971 mit der Operation „Foot", diese Massenausweisung von KGB- und GRU-Agenten war einer der größten Triumphe während des Kalten Krieges. Und es wird nicht nur ausgesprochen spannend, wenn immer wieder Einzelschicksale beschrieben und auch Namen genannt werden. Da erscheinen manche Aspekte der Weltgeschichte in einem anderen Licht, wie jene zur großen Erhitzung des Kalten Krieges Anfang der 80er Jahre. Es lässt im Nachhinein schaudern zu lesen, welch realen Einfluss Verschwörungstheorien auf sowjetischer Seite hatten. Erst spät wurde bekannt, wie sehr die Kreml-Mächtigen davon überzeugt waren, dass US-Präsident Reagan gemeinsam mit den Briten den atomaren Erstschlag gegen die Sowjetunion planten.

Aber auch die Zeit danach, als es sogar zweimal weibliche Generaldirektoren gab – wie der MI 5 ohnehin schon früh in überraschend starkem Maße auf weibliche Intelligenz und Intuition setzte – war von Lisht und Schatten geprägt. Während von bedrohungen wie durch die Werkspionage noch deultich berichtet wird, bleiben wichtige Kapitel wie die Gefährdung durch die IRA und den islamistischen Terror aus naheliegenden Gründen der Aktualität wenig beleuchtet.

Dieses einzigartige Werk gibt außer den faszinierenden historischen und weltpolitischen Einblicken auch solche in die Strukturen und Arbeitsweisen eines Geheimdienstes. Das ist dann nicht nur für Kenner und interessierte Laien interessant, dieses obendrein sehr unterhaltsam verfasste Buch dürfte zugleich unerschöpfliche Quellen für neue Romane und Filme zum Thema eröffnen.

 

# Christopher Andrew: MI 5 – Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes (aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Enrico Heinemann); 912 Seiten; Propyläen Verlag, Berlin; € 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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