ANDREW WILSON: „MIT GESPALTENER ZUNGE"

Seine Biographie über Krimi-Königin Patricia Highsmith brachte ihm Preise ein, nun hat Andrew Wilson mit seinem ersten Roman „Mit gespaltener Zunge" einen so raffinierten Thriller vorgelegt, dass die Altmeisterin gewiss mit höchster Anerkennung nicht sparen würde.

Dem Einstieg ist der Satz vorangestellt: „Dies ist nicht das Buch, das ich schreiben wollte. So war es überhaupt nicht geplant." Das ist ein Signal des Ich-Erzählers Adam Woods, dessen Bedeutung sich erst später erschließt. Zunächst aber platzt die geplante Karriere des jungen Kunsthistorikers, der in Venedig als Hauslehrer arbeiten und nebenher ein Buch schreiben wollte. Doch er hat Glück, ebendort bei einem alten englischen Schriftsteller als Assistent unterzukommen.

Dieser Gordon Crace schrieb vor 40 Jahren den Weltbestseller „Der Debattierclub", der in einer unbedeutenden Privatschule spielte, an der eine Gruppe Schüler einen Lehrer umbringt. Seither hat der inzwischen gebrechliche alte Mann nichts mehr geschrieben, sondern sich in seinem düsteren, verwahrlosten Palazzo in der Lagunenstadt abgekapselt. Gegenüber Adam verhält er sich fast wie ein Kerkermeister samt vielen Verbotszonen und verriegelten Räumen in seinem Refugium. Die beunruhigende Athmosphäre des Ortes wie auch die Geheimniskrämerei des Alten fordern die Neugier Adams heraus und schon hierbei lässt sich eines erahnen: er ist ein unzuverlässiger Chronist, wie ohnehin nichts wirklich so ist, wie es scheint.

Tatsächlich entdeckt Adam gleich zwei Dinge, die ihn elektrisieren: die Versuche der renommierten Biografin Lavinia Maddon, Kontakt mit Crace zu bekommen, sowie ein seltsam unbeholfener Erpresserbrief aus England. Der ruhmsüchtige Adam wittert eine einzigartige Chance – warum sollte er nicht selber die ganz sicher begierig aufgenommene Biographie des erratischen Autors verfassen?! Um der obsessiven Herrschaft Craces und dem finsteren Palazzo für weitere Recherchen vorübergehend zu entkommen, gaukelt er mit abgefeimter Schauspielerei die Beerdigung der geliebten Großmutter vor, weshalb er für ein paar Tage nach England fliegen müsse.

Und in diesem zweiten Kapitel bekommt die Lichtgestalt des Ich-Erzählers zum wachsenden Staunen des längst vollauf gefesselten Lesers immer mehr dunkle Flecken. Lügen, Täuschen, selbst Gewaltanwendung gehen ihm leicht von der Hand und sein Vater stellt nicht nur wegen früherer Fehlverhalten fest, Adam sei „ein Monster ohne Moral". Entsprechend leicht fällt Adam die nötige Skrupellosigkeit, um die Biografin und den Erpresser auszuforschen. Überraschendes erfährt er, denn das Geschehen aus Craces Bestseller gab es damals wirklich und der Autor war selbst Lehrer an dieser Schule.

Doch muss er auch erfahren, warum Crace offenbar einen solchen Narren an ihm gefressen hat, denn es gab seinerzeit einen gemobbten Schüler, der dann Craces nicht nur platonischer Liebling und später Adams Vorgänger in Venedig wurde. Dieser Christopher aber hat sich aus rätselhaften Gründen umgebracht und – Adam sieht ihm zum Verwechseln ähnlich! Und so monströs, wie sich die Wahrheit um Crace und sein Buch immer mehr offenbart, so monströs entwickelt sich auch Adam zunehmend.

In Kapitel 3 schließlich treffen diese beide so verstörenden Charaktere zu einem dramatischen Finale aufeinander. Bis zuletzt halten die frappierenden Wendungen und Überraschungen in Atem und zuguterletzt stellt man mit Verwunderung und Begeisterung fest – nur so konnte es enden! Das ist faszinierend komponiert und lebt nicht zuletzt von der ausschließlichen Sicht des Ich-Erzählers, dem in seiner Gier Skrupel fremd sind und der gleichwohl ungeahnt seinen Meister findet. Fazit: ein Meisterwerk als Krimi und als Psychothriller, das von Anlage, Sprache und Athmosphäre auch sehr anspruchsvollen Lesern größtes Vergnügen bereiten wird.

 

# Andrew Wilson: Mit gespaltener Zunge (aus dem Englischen von Judith Schwaab); 384 Seiten; Droemer Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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