CAROL O'CONNELL: „SUCH MICH!"

Wer einen bis zuletzt packenden Thriller sucht, eine raffiniert komponierte Krimigeschichte und dazu auch noch eine der ungewöhnlichsten und faszinierendsten Ermittlerinnen – der wird nach Carol O'Connells „Such mich!" lange nichts Adäquates finden. Und es ist wahrlich schwer zu verstehen, warum die bisher veröffentlichten Fälle mit Mallory, der schrägen Top-Polizistin aus New York, nicht längst ein ganz breites Prublikum gefunden haben.

Mallory mit der goldenen Dienstmarke für herausragende Leistungen ist für sich gesehen ein schwerer Fall: ordnungssüchtig, einzelgängerisch, gnadenlos, höchst attraktiv mit ihren seltsamen grünen Augen. Und ebenso gefühlsarm wie gestört, seit sie als Kind ihre Mutter verlor, sich allein herumtrieb und erst später bei einem inzwischen verstorbenen Detective und seiner Frau Halt fand. Jetzt aber jagt die junge, selbst für die wenigen guten Freunde so unberechenbare Frau mit ihrem frisierten VW-Käfer nach Chicago. Dorthin, wo die legendäre Route 66 über Jahrzehnte Startpunkt für die bis Los Angeles durchgehende „Mutter aller Straßen" war.

Diesmal in privater Mission, im Gepäck einen ganzen Stapel von Briefen ihres Vaters, den sie nie kennengelernt hat. Er war ein eingefleischter Fan der alten 66 und schwärmt in den Briefen geradezu von all den damaligen Besonderheiten der 2000-Meilen-Strecke. Damit beginnt jedoch nicht etwa eine sentimentale Reise nach Daddys Erinnerungen, denn gleich am Startpunkt der 66 stößt Mallory auf einen Tatort, an dem ein verstümmelter Mann liegt, dessen Arm unübersehbar in Richtung 66 zeigt. Zugleich findet die Polizei in Mallorys Wohnungdie Leiche jener Frau, die ihr die Briefe des Vaters zugespielt hat...

Ihr treuer alter Kollege, der versoffene Spitzen-Cop Riker, ahnt, dass mehr hinter Mallorys Verschwinden steckt, als nur ein vermeintliches Burn-out-Syndrom. Gemeinsam mit dem hoffnungslos in Mallory verliebten Psychologen Butler versucht Riker, die Flüchtige aufzuspüren. Die gerät auf der den Vorgaben der Briefe folgenden Fahrt währenddessen an einen Konvoi von Eltern aus einem Internetforum unter ihrem Guru, dem alten Psychiater Paul Magritte, die alle ihre teils seit Jahren verschwundenen Kinder suchen. Sie wollen auf ihre Fälle aufmerksam machen, das große Medien-Interesse setzt jedoch erst ein, als vor einem Diner ein Arm in einem Kofferraum gefunden wird. Das geschieht durch Mallory auf deren unnachahmliche Art und schon ist nicht nur der Chicagoer Polizei-Chef involviert, nun schaltet sich auch das FBI mit einer ganzen Ermittlergruppe ein.

Es eröffnen sich nach und nach albtraumhafte Dimensionen, denn ein Kindermörder, der offenbar seit vielen Jahren ein perfides Spiel treibt, schlägt nun erneut zu. Und es wird ruchbar, dass das FBI unter seinem offenbar ebenso anmaßenden wie unfähigen Ermittlungsleiter Berman bereits reihenweise Kindergräber ausgehoben und die kleinen Leichen entweder ohne Wissen der Eltern oder gegen deren Willen einkassiert hat. Während Magritte seine unaufhörlich wachsende Elternschar zu ständig neuen Orten an der Route 66 führt, sondern sich immer wieder einzelne Eltern ab und – fallen dem nun scheinbar wahllos mordenden Serienkiller zum Opfer.

Während Mallory nur sehr erratisch ins Geschehen eingreift, bauen sich massive Konflikte zwischen Riker und der Chicago-Polizei auf der einen Seite und den FBI-Leuten andererseits auf, aber auch unter den Eltern rumort es. Wer ist der angebliche Kindsvater mit dem Wolf an der Leine? Wieviel Wahres steht in dem Kartenmaterial des Spinners mit dem Mustertick, dessen Tipps für Kinderleichenfunde sich als erschreckend zutreffend erwiesen haben? Was treibt Anführer Magritte, wenn er sich zwischendurch heimlich zurückzieht? Mit Gewissheit schlägt nur der Mörder zu und immer durchschneidet er seinen Opfern blitzschnell die Kehle und hackt ihnen die rechte Hand ab – wie schon seit Jahren bei all den Kindern. Und stets gebärdet er sich als ausgewiesener Kenner und Liebhaber der 66. Wie Mallorys Vater...

Was aber reitet FBI-Mann Berman, dass er geradezu mutwillig die Jagd nach dem Killer mit dem einzigen überlebenden Zeugen eines der Kindermorde, der kleinen Dodie, als Köder zum nackten Irrsinn ausarten lässt?! Es sei nur noch so viel von diesem surrealistischen und doch so authentisch wirkenden Roadmovie verraten: es mündet nach einzigartiger Linienführung und immer wieder atembraubenden Wendungen in ein furioses Finale. Die schnellen Schnitte, die handfesten Dialoge und die grandios erfundenen Akteure schreien regelrecht nach einer Verfilmung und ein solcher Film (aber bitte mit einem weniger nichtssagenden Titel!) müsste schon wegen der Route 66 zum Kult werden.

Fazit: wer derartige Thriller entwirft mit einer solch einzigartigen Ermittlerin und so vielen ebenfalls hinreißenden Charakteren, der gehört zur Edelklasse des Genres. Wie konnte man eine Autorin wie Carol O'Connell bisher bei uns nur derartig übersehen?!

 

# Carol O'Connell: Such mich! (aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann); 478 Seiten, Klappenbroschur; btb Verlag, München; € 14,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 695 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de