HELENE HEGEMANN: „AXOLOTL ROADKILL"

Sie schwankt zwischen Albtraum und Verlorenheit und empfindet schreckliche Leben als größten Glücksfall. Sie kokettiert mit ihrer versnobten Kaputtheit und ihr gesamtes Erzählen fiebert und vibriert vor Lebensverdrossenheit und Sinnsuche. Und das alles mit 16, vollgedröhnt, besessen von gleichgültig wahllosem Sex und in wüster Fäkalsprache salbadernd: Mifti, Szene-Göre mit Wohlstandshintergrund in Berlin.

Darum geht es im Skandalhit des neuen Jahres 2010 und vielleicht hätte „Axolotl Roadkill" es ja dank seiner rein literarischen Qualitäten auch so in die Feuilletons und Bestsellerlisten geschafft. Stattdessen bleibt ein abträglicher Beigeschmeack, weil Helene Hegemann zugeben musste, dass sie allerlei 'Anleihen' bei anderen Autoren genommen hat. Gemäß Miftis Selbsteinschätzung „Diese junge Frau spielt geschmeidig auf der Klaviatur wie eine Gazelle mit Panzerfaust" riskiert die soeben 18 Jahre alt gewordene Autorin in störrischer Naivität ihre Seriosität, wenn sie diese Intertextualität mit fremden Texten als ihr gutes Recht deklamiert und Urheberrechte für entbehrlich hält.

Dabei ist der Roman um Selbsthass und fehlende Geborgenheit ein starkes Stück Literatur, eine hingeätzte Sprachorgie, die passagenweise Trashmovie-mäßig daherkommt, wenn die kaputte Wohlstandsgöre durch die großstädtische Subkultur geistert und es bei all den Drogenexzessen irgendwann gar nicht mehr um die Wirkung geht, „sondern nur noch um so eine Art nasale Befriedigung". Ihr Alk-Mutter ist vor drei Jahren verstorben, der im linken Kulturbetrieb fett absahnende Vater lässt seine Kinder freundlich-gleichgültig links liegen. Miftis ältere Geschwisterleben auch in der vermüllten Luxuswohnung und sind ähnlich verkorkst und wohlstandsverwahrlost wie sie.

Miftis Welt ist derartig aus den Fugen, dass sie sie in einer Dauerorgie von Suff, schnellem Sex, Überdruss und dem stummen Schrei nach einem wie auch immer gearteten Ausweg aus der Sinnlosigkeit durchtorkelt. Zugleich ähnelt sie dem titelgebenden mexikanischen Lurch, der ein Leben lang im Larvenstadium verharrt, denn: „Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden". Und dabei ist sie längst zum „Roadkill" (ein auf der Straße überfahrenes Tier) geworden, das aus jedem Alltagsleben gefallen ist und selbst bei ihrem abgeklärten Therapeuten nur durch einen überraschenden Oralsex Momente einer dumpfen Geborgenheit erlebt.

Dieser schmerzhafte Monolog fetzt aggressiv und vulgär von Seite zu Seite und sein Ekelpotential wird nur von einzelnen Lichtblitzen an irrwitzigem Sarkasmus aufgehellt. Diese rüde Sprache tobt vor Selbstverachtung und Lebensüberdurss und brilliert dabei immer wieder mit einer Magie wie von LSD angeheizt. So viel radikal subjektive Sprachgewalt tut fast weh und hier muss man der Autorin eines zugutehalten beim Abkupfern: mag auch die Liste der inzwischen eingestandenen „Fremdzitate" recht umfangreich geworden sein – erst ihre Komposition mit diesen Würzbeigaben hat „Axolotl Raodkill" zu einem frühreifen Geniestreich gemacht.

Gleichwohl grenzt es an jugendliche Unverfrorenheit, wenn sich die Autorin wegen des ungenierten Zitatklaus auf Genies wie Goethe und Brecht beruft, die es ihr quasi vorgemacht hätten – wenn da der Faust oder die Bettleroper in eigene Meisterwerke umgeformt wurden, so haben diese Meister nicht passagenweise abgeschrieben und das teils sogar wortgetreu.

Nicht vorwerfen kann man Helene Hegemann dagegen, wenn einige Kritiker aus ihrem Elfenbeinturm heraus das Jungtalent als Sprachrohr der gegenwärtigen Teenager-Generation überhöhen und damit entschieden falsch liegen. Mifti und die übrigen Protagonisten sind Teil einer großstädtischen Subkultur und schon deshalb nicht exemplarisch zu nennen, weil allein ein Viertel aller Jugendlichen am anderen Ende der Wohlstandsleiter stehen und eher um Teilhabe am normalen Leben kämpfen, als sich aus diesem angewidert mit den aberwitzigsten Drogen in ein düster-schmuddeliges Nirvana wegzudröhnen.

Ob der Roman trotz aller Einwände auf die Liste für den Preis der Leipziger Buchmesse gehört? Dann sollten die hochmögenden Juroren vielleicht auch ein gewisses Stockholmer Komitee gleich mit bemühen...

 

# Helene Hegemann: Axolotl Roadkill; 204 Seiten, Klappenbroschur; Ullstein Verlag, Berlin; € 14,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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