SIRI HUSTVEDT: „DIE ZITTERNDE FRAU"

Vom Kinn an aufwärts war ich mein vertrautes Selbst. Vom Hals an abwärts war ich eine geschüttelte Fremde." Diese ungewöhnliche Erfahrung macht Siri Hustvedt, als sie vor nunmehr vier Jahren eine Rede zu Ehren ihres verstorbenen Vaters auf dessen Universitätscampus hält. Das Verwirrendste aber war dabei, dass sie, die öffentliches Reden gewohnt war und nie zuvor Probleme damit hatte, den Vortrag unbehelligt fortführen konnte – nur der Körper zitterte, nicht Kopf und Stimme.

Unter dem Titel „Die zitternde Frau. Die Geschichte meiner Nerven" hat die New Yorker Erfolgsautorin nun ein Buch über das so Unerklärliche und ihre Recherchen nach Ursachen und Erklärungen verfasst. Migräne, Schwindelanfälle, Levitationsgefühle und selbst Halluziantionen hatte sie erlebt und diese hatten auch dazu geführt, dass sie sich viel mit Neurologie, Psychiatrie und Psychologie beschäftigte. Wer ihre Romane kennt, wird wissen, wie sehr ihre erworbenen Kenntnisse in diesen Bücher einflossen.

Jetzt aber begann die als hypersensibel bekannte, wissenschaftlich geprägte Autorin mit einer Ursachenforschung an und für sich selbst, denn – es blieb nicht bei dem einen Vorfall. Spätere Zitterattacken allerdings stand sie nicht mehr so unbemerkt durch wie die erste. Andererseits geschahen diese mysteriösen Spaltungen von Körper und Geist/Stimme nicht zwingend bei jedem öffentlichen Auftritt. Wenn sie ihre intensiven Recherchen hier ausbreitet, tut sie dies ohne Indiskretion gegenüber sich selbst und quasi in Form eines Protokolls von Handlungen und Ereignissen.

Natürlich sucht sie Neurologen und Psychologen auf und liest sich durch Schriften zu Psychoanalyse und Hirnforschung. Erkenntnisse und Theorien über einschlägige Krankheiten bis hin zu Epilepsie, Konversionsstörungen, Depressionen und bipolaren Störungen erläutert sie anschaulich mit klugen Worten. Zugleich steigt sie tief ein in die eigene Erinnerungswelt und hier insbesondere die der Kindheit und dem Verhältnis zu ihrem Vater. Könnte er der Schlüssel zu ihrem Leiden sein, wo doch die Erinnerungen so gänzlich ungetrübt erscheinen?

Auf eigentümliche Weise fesselt dieser Bericht einer Suche nach dem Grund für ein Leiden, das auch die aufgesuchten Experten vor Rätsel stellt. Das ist nicht nur brillant geschrieben, es besticht auch durch viele Fallbeispiele, zumal Siri Hustvedt auch auf persönliche Erfahrungen aus einem von ihr abgehaltenen Schreibkurs für psychisch Kranke zurückgreifen kann. Fazit: ein außergewöhnliches Buch und ein durch und durch intellektuelles Lesevergnügen.

 

# Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven (aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald); 236 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 18,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: NF 228 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de