NADEEM ASLAM: „DAS HAUS DER FÜNF SINNE"

Aktueller als dieser Roman kann ein Buch kaum sein wie Nadeem Aslams „Das Haus der fünf Sinne", ein Höllenritt mitten in das seit Jahrzehnten von Krieg und Barbarentum geschundene Afghanistan. Einst Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, sind die Wände des Hauses mit kunstvollen Malereien verziert und jedes Zimmer ist einem der fünf Sinne gewidmet.

Doch das Haus ist vom Krieg beschädigt und seit Beginn der Taliban-Tyrannei schmutzig, denn sein Bewohner hat die erlesenene Bilder mit Lehm überschmiert, um sie vor der Zerstörung durch die dumpf fundamentalistischen Islamisten zu retten. Seit langem lebt hier Marcus Caldwell, gebürtiger Brite, der sich einst als Arzt hier niederließ, weil er eine Afghanin liebte. Auch diese Qatrina war Ärztin, wurde inzwischen jedoch von den Taliban gesteinigt. Nach 39-jähriger Ehe verurteilten die Zeloten sie als Ehebrecherin zu dieser archaischen Todesstrafe, weil die Trauung damals von einer Frau vollzogen wurde und ihnen deshalb als ungültig galt.

Noch zu Zeiten der sowjetischen Besetzung in den 80er Jahren hatten die Beiden ihre Tochter Zameen verloren. Eines Nacht waren Soldaten gekommen und hatten sie als angebliche Sympathisantin des Widerstandes auf Nimmerwiedersehen verschleppt. Denunziert hatte sie ein einheimischer Geistlicher, dessen kriminelle Geheimnisse sie durch Zufall entdeckt hatte. Als nun Lara, eine Russin, in Marcus' Haus kommt, die ihren vor 25 Jahren als Soldat hier vermissten Bruder Benedikt sucht, stellt sich heraus, dass er mit Zameens Verschwinden und der späteren Geburt ihres Sohnes zu tun hatte.

Aber auch ein anderer Gast weiß Bruchstücke aus dem Leben der Tochter; der Juwelenhändler und frühere US-Geheimdienstler David Tower, der auf Seiten der Afghanen Fäden zog, um die Invasoren aus der feindlichen Großmacht zu bekämpfen. Von ihm lernen wir, wie entsetzt die Einheimischen zunächst waren, als ihnen die amerikanischen Unterstützer Selbstmordattentate als besonders wirkungsvolle Waffe empfahlen – jeder Muslim wusste schließlich, dass Selbstmörder in die Hölle statt ins verheißene Paradies kommen.

Marcus jedoch, der seiner Frau zuliebe sogar zum Islam konvertiert war und eigentlich nur Gutes getan hatte, verlor nicht nur nach der Tochter auch die Ehefrau. Schon zuvor wurde er als Dieb verleumdet und die Taliban zwangen ausgerechnet seine Frau, die Ärztin, ihm der Scharia gemäß die linke Hand zu amputieren. Über diese Unfassbarkeit verlor Qatrina zusehens den Verstand und tat dennoch etwas angesichts der Kulturbarbarei der finsteren Glaubensfanatiker Weises, indem sie die stattliche Büchersammlung Stück für Stück an die Zimmerdekcne nagelte, um sie zu bewahren.

Aber dieses Haus nahe des Provinznests Usha zwischen Jalalabad und dem Tora-Bora-Gebirge – in dessen Höhlen sich Osama Bin Laden nach dem 11. September 2001 versteckt haben soll – wird in dem grandios geflochtenen Netz der Handlungsstränge auch Kristallisationspunkt weiterer Protagonisten der vielfältigen Mächte dieses zerrissenen Landes. Ausgerechnet hierhin flüchtet sich nun der Waisenjunge Casa, ein bereits zum Märtyrer ausgebildeter Krieger des lokalen Warlords. Er hat einen Auftrag vermasselt, seiner Mission aber bleibt er im gnadenlos eingeimpften Sendungsbewusstsein selbst dann treu, als ihn erstmals die Versuchung einer scheuen Teenagerverliebtheit verwirrt.

Bevor zum düsteren Finale dann auch noch der US-Soldat James, Angehöriger einer Spezialeinheit zur Vernichtung der Al-Quaida-Basis in Tora Bora, im „Haus der fünf Sinne" erscheint und mit kühlem Zynismus auf die grausamen Gewalt- und Foltermethoden der einheimischen Aufständischen mit mindestens ebenso unmenschlichen Maßnahmen antwortet, gehen die Blicke immer wieder zurück in die Vergangenheit des gepeinigten Landes. Da werden wir Zeuge, wie der kommunistische Präsident Nadschibullah massakriert und am Laternenpfahl aufgehängt wird, wie die Taliban später Kabul erobern und wie sich der Steinzeit-Islam von der angeblich gottesfürchtigen Glaubensausübung zum finsteren menschenverachtenden Wahnsinn wandelt.

Und wenn man bei all dem Barbarentum und den unfassbaren Quälereien meint, es könnte nicht noch schlimmer kommen, dann wird man doch noch auf eine Weise eines Besseren belehrt, dass man zuweilen beim Lesen ein tiefes Atemholen braucht, um weitermachen zu können. Dennoch hat dieses erschütternde Buch auch großartige poetische Bilder zu bieten, die unvergesslich berühren. Bei all dem ergreift Nadeem Aslam, selbst in Pakistan geboren und mit dem politisch verfolgten Vater nach Großbritannien emigriert, keinerlei Partei, schildert vielmehr wichtige Passagen aus der jeweiligen Perspektive der Aktuere.

Doch es ist gerade der vom Schicksal so gebeutelte englische Arzt Marcus als überzeugter Freund Afghanistans, der den vermutlich entscheidenden Satz sagt: „Es hätte keinen Niedergang gegeben, wenn dieses Land in Ruhe gelassen worden wäre." Fazit: dieser komplexe, mit Geschichten und schlimmen Schicksalen übervolle Roman ist ein schwer erträglicher Schrei nach Frieden. Und ein ebenso wichtiges wie großartiges Stück Weltliteratur, zu dessen Qualität der hervorragende Übertragung ins Deutsche einen hoch zu lobenden Anteil beisteuert.

 

# Nadeem Aslam: Das Haus der fünf Sinne (aus dem Englischen von Bernhard Robben); 460 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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