YAN LIANKE: „DER TRAUM MEINES GROßVATERS"

Ein Zwölfjähriger, unschuldiges Opfer eines ganzen Dorfes voller aufgebrachter Menschen, erzählt aus dem Grab heraus seinem Großvater in Form von Träumen die furchtbare Geschichte dieses Dorfes und warum er sterben musste. Der Junge ist der Sohn des reichen Bluthändlers und Parteifunktionärs Ding Hui, durch dessen Raffgier und Skrupellosigkeit sämtliche Einwohner vom „Fieber" dahingerafft wurde.

Realer Hintergrund des Geschehens ist ein riesiger Blutspendeskandal in Zentralchina, bei dem vermutlich Hunderttausende durch eine Aids-Epidemie umkamen. Mitte der 90er Jahre war Blutplasma knapp geworden und es blühte ein rasanter Handel mit dem 'nachwachsenden Rohstoff' auf. Das versprach für dubiose Händler schnellen Reichtum und für die einfache, zurückgebliebene Landbevölkerung einen kleinen Wohlstand ohne Anstrengung. Die damit ausgelöste fatale Todeswelle entvölkerte ganze Landstriche und noch heute darf über die Seuche als angeblichen Ausfluss westlicher Dekadenz in China nicht gesprochen werden.

Um so verdienstvoller kam deshalb 2006 der Roman „Der Traum meines Großvaters" von Yan Lianke, der sich in grandioser Weise dieser quasi verleugneten Tragödie widmet, dessen Buch aber auch sehr bald verboten wurde. Wie schon in der hintersinnigen Satire „Dem Volke dienen" gelingt dem großen Romancier auch hier ein solch fesselndes Porträt einer Gesellschaft, dass man sich dem nicht entziehen kann. Mit einem wesentlichen Unterschied: diesmal animiert es nicht zum bitterbösen Lachen, diesmal geht es tief unter die Haut.

Das liegt auch an der fast kindlich einfachen Erzählweise aus Sicht des fassungslosen Jungen. Sein umtriebiger Vater erscheint den Dörflern unglaublich segensreich, verschafft er ihnen doch leichtes Geld für ihren bie versiegenden körpereigenen Rohstoff. Dass Ding Hui durch unhygienische Pfuscherei dabei einen nach dem anderen mit der ihnen unbekannten tödlichen Krankheit infiziert, begreifen sie so wenig, dass er sogar unbehelligt Parteikarriere machen kann. Doch selbst, als sie erkennen, dass er die Ursache für ihr Siechtum ist, wagen sie keinen direkten Angriff gegen ihn – als Vertreter der Regierung hat er quasi Immunität erlangt.

Also rächen sich die Kranken an Ding Huis Vieh und schließlich durch die Tötung des Jungen. Dabei drängen sie in ihrer unbegreiflichen Not zum Zusammenhalt, gründen sogar eine Art Wohngemeinschaft der Sterbenden, wo sie gemeinsam kochen, Beziehungen eingehen und im Angesichte des Todes selbst noch Ehen schließen. Doch mit den unübersehbaren Zeichen des Todes vor Augen gewinnen niedere Triebe wie Gier, Neid und Missgunst die Oberhand über den Gemeinsinn. Um so anrührender wirkt da eine heimliche, innige Liebesgeschichte eines bereits von den Zeichen des Endstadiums befallenen Paares inmitten all der Niedertracht und des Sterbens.

Für den Gipfel der Fassungslosigkeit aber sorgen die Geschäfte Ding Huis, der sich auch noch am Sarghandel bereichert wie auch an dem aberwitzigen Geschäft mit amtlich beglaubigten Eheschließungen für Verstorbene – gemäß altem Brauch, damit kein Toter im Jenseits allein sein muss. Und ganz nebenher macht diese Lichtgestalt krass kapitalistischer Geschäftemacherei noch Karriere in der kommunistischen Partei. Natürlich gehörte ein solcher Roman verboten, könnte man doch etwas von der real geschehenen Tragödie und den politischen Lügengebäuden im System dahinter erahnen.

Fazit: ein großartiger Autor hat ein ebensolches Stück sehr eigenständiger Literatur geschrieben, das gewissen Kreisen aus triftigen Gründen ausgesprochen wehtut.

 

# Yan Lianke: Der Traum meines Großvaters (aus dem Chineischen von Ulrich Kautz); 364 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin; € 22,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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