ALISSA WALSER: „AM ANFANG WAR DIE NACHT MUSIK"

Der Begriff „to mesmerize" ist in die englische Sprache eingegangen und bedeutet so viel wie fesselnd oder gar hypnotisierend. Er geht zurück auf den am Bodensee geborenen Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815), der einst den sogenannten Animalischen Magnetismus als Heilmethode erfand. Trotz etlicher Erfolge wurde er als Scharlatan geschmäht und von den wissenschaftlichen Kollegen bedroht und ausgegrenzt. Sein großes Problem war, dass er mit seinen Methoden der Zeit zu weit voraus war und – sie nicht mit fundierten Worten zu erläutern vermochte.

Einmal scheint Mesmer endlich dem Druchbruch ganz nah zu sein und scheitert doch. Diese fünf ersten Monate des Jahres 1777, als der Mediziner in Wien der in der Kindheit erblindeten Maria Theresia von Paradis (1759-1824) begegnet, hat Alissa Walser nun in ihrem ungewöhnlichen Debütroman „Am Anfang war die Nacht Musik" zu einer seltsam flirrenden Geschichte vom schicksalhaften Aufeinandertreffen zweier Außenseiter gemacht. Die 17-Jährige ist eine hochtalentierte Klavierspielerin, hat jedoch einen schlimmen Leidensweg hinter sich dank allerlei Heilungsversuchen durch akademische Kurpfuscher mit teils regelrechten Foltermethoden.

Sehr einfühlsam und abwechselnd mal aus der Perspektive des Arztes, mal aus der der Patientin erzählt, entwickelt sich behutsam ein Vertrauensverhältnis. Ganz nach den Methoden späterer Psychotherapeuten vermag Mesmer den gewaltigen Druck, den das Elternhaus offensichtlich über all die Jahre ausgeübt hat, abzubauen. Der Einsatz von Musik, vor allem aber seine magnetischen Anwendungen schaffen, was die ebenso misstrauischen wie missgünstigen Kollegen nicht geschafft haben: Resi gewinnt tatsächlich ihr Augenlicht zurück!

Ist das der ersehnte Durchbruch, wo doch das Mädchen durch sein Klavierspielen und noch mehr durch den Vater, einen kaiserlichen Hofbeamten, direkten Zugang zu Kaiserin Maria Theresia hat?! Das Gegenteil geschieht, denn als Sehende verliert die nervöse, ja überspannte Musikerin ihre bis dato so souveräne Virtuosität am Klavier. Darüber ist sie verwirrt und enttäuscht, der gestrenge Vater aber holt sie umgehend heim. Mit der Folge, dass sie bald wieder in ihre mutmaßlich psychogene Blindheit verfällt.

Für die Familie ist das durchaus nicht unerfreulich, schließlich hat sich das grandiose Klavierspiel als sehr einträglich erwiesen und die Kaiserin hatte ihr sogar eine lebenslange Gnadenpension ausgesetzt. Für Mesmer aber ist der sehr wahrscheinlich nicht von ihm verschuldete Rückfall eine Katastrophe. Da ihm für seine seltsamen Heilmethoden keine Erklärungen in „vernünftigen Worten" einfallen, muss er Wien in Schimpf und Schande verlassen.

Martin Walsers Tochter überzeugt bei der komplexen Geschichte durch außerordentliche Sprachmagie, die so ganz zur Thematik passt. Zugleich fordert die Bachmann-Preisträgerin viel Einfühlungsvermögen des Lesers in dieses Aufeinandertreffen zweier seelenverwandter Außenseiter, die einander kein Glück zu bringen vermögen.

 

# Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik; 253 Seiten; Piper Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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