ABRAHAM VERGHESE: „RÜCKKEHR NACH MISSING"

Ein Meisterwerk allerfeinster Erzählkunst ist dem indisch-stämmigen Medizinprofessor Abraham Verghese mit seinem Debütroman „Rückkehr nach Missing" gelungen. Wie sein Ich-Erzähler Marion Stone wurde der Autor in Äthiopien geboren und lebt seit langem in den USA. Das Epos, das sich über drei Länder und sechs Jahrzehnte hinzieht, beginnt 1947 auf einem Frachter, der auch ein paar Passagiere aus Indien in den Yemen bringt.

Auf ihm findet die erste Begegnung zwischen dem britischen Chirurgen Thomas Stone und Schwester Mary Joseph Praise statt, einer Nonne vom Bischöflichen Karmeliterinnenorden in Madras. Unterwegs rettet sie sein Leben und er ist von ihrer Schönheit so verwirrt, dass er sie einlädt, mit ihm an das Missions-Krankenhaus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba zu kommen, das durch eine einheimische Sprachverhunzung „Missing Hospital" genannt wird.

Sieben Jahre später setzt hier nun jene bis zuletzt fesselnde Geschichte von Liebe und Hingabe, von Verrat und Erlösung endgültig ein, von der der mittlerweile 50-jährige Chirurg Marion Stone erzählt. Als er und sein Zwillingsbruder Shiva in dem Hospital geboren werden, überlebt Schwester Mary die vorzeitige Geburt nicht. Aber auch den Vater verlieren die Jungs umgehend, denn Dr. Stone verschwindet entsetzt über den Tod und lässt sie mit unbekanntem Ziel im Stich. Die Beiden finden jedoch in dem Arztehepaar Hema und Ghosch, die wie ihre Mutter aus Indien stammen, liebevolle Adoptiveltern, die später auch den Wunsch beider nach einer Karriere als Mediziner fördern.

Es folgen wunderschöne Beschreibungen der Kindheit und Jugend, die zuweilen auch Szenen von neckischem Schalk einschließen. Dann aber kommt es zu einem Bruderzwist zwischen dem ebenso lebenslustigen wie genialischen Shiva und dem gewissenhaften, zaudernden Marion. Der liebt mit aller jugendlicher Ernsthaftigkeit die schöne Einheimische Genet und will sie eines Tages auch heiraten. Um so entsetzter ist er, als sie der leichtfüßige Shiva wie selbstverständlich verführt.

Einen schlimmeren Verrat kann es für Marion nicht geben und er bedeutet die schmerzhafte Trennung von seinem eineiigen Zwillingsbruder, mit dem er bei der Geburt sogar so aneinandergewachsen war, dass man sie chirurgisch voneinander lösen musste. Als junger Arzt muss Marion schließlich aus dem von politischen Umbrüchen aufgewühlten Äthiopien fliehen und kommt in die USA, wo er sich ganz der Arbeit als Krankenhausarzt widmet. Doch das detaiiliert und sehr farbig erzählte Epos mit all seinen großartig gezeichneten Charakteren ist damit noch längst nicht zuende und selbst die unvergessene Jugendliebe Genet taucht eines Tages wieder auf, nachdem sie wilde Jahre als Guerrilla-Kämpferin für Eritrea verbracht hat.

Damit holt die Vergangenheit Marion doch noch ein und es kommt zu einem dramatischen Finale, in dem er sein Leben ausgerechnet den Menschen anvertrauen muss, die ihn einst im Stich gelassen oder verraten haben. Das Alles ist im besten Sinne altmodisch und dazu in elegantem Stil erzählt und zugleich von tiefer Menschlichkeit geprägt. Fazit: ein geradezu überlebensgroßer Roman, der noch lange nachklingt.

 

# Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing (aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz); 772 Seiten; Insel Verlag, Frankfurt; € 24,80

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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