CAY RADEMACHER: „DREI TAGE IM SEPTEMBER"

Sonntag, 3. September 1939, an der Bord der „Athenia", 19:38 Uhr. Edith Lustig schlendert über das Promenadendeck und hat noch eine Minute zu leben." Mit diesem nüchternen Satz, der dennoch unter die Haut geht, beginnt Cay Rademachers Buch über das letzte Schiff, das Europa im Frieden verließ, um dann das erste zu sein, das ein deutsches U-Boot im Zweiten Weltkrieg versenkte.

Drei Tage im September. Die letzte Fahrt der Athenia 1939" lautet der Titel, berichtet wird jedoch weit mehr als das, denn der Wissenschaftsjournalist schildert auch die politischen und militärischen Ereignisse, die in den Kriegsbeginn mündeten. Zugleich widmet er sich unsentimental und dennoch menschlich sehr berührend einer großen Zahl der Schicksale von Passagieren und Mannschaftsangehörigen. Dank hervorragender Recherchen gibt er ihnen ein Gesicht und zeigt den Querschnitt der 1102 Passagiere auf, der so exemplarisch für diesen explosiven Zeitpunkt der Weltgeschichte ist.

Es sind viele Kanadier und Amerikaner, die wegen der Kriegsgefahr dringend in die Heimat zurückwollen, doch es befinden sich auch etliche Juden vom Kontinent an Bord, die noch soeben die Flucht vor den Nazis geschafft haben. Aufgrund der erweiterten Kapazität sind insgesamt 1417 Mneschen an Bord, als die „Athenia" am 2. September aus Liverpool ablegt mit Ziel in Kanada. Parallel werden die fieberhaften diplomatischen Aktivitäten zwischen dem Deutschen Reich, Großbritannien und Frankreich aufgezeigt, die am Tag nach dem deutschen Überfall auf Polen den Siedepunkt erreichen, dem am 3. September erst die britische und dann am selben Tag die französische Kriegserklärung folgt.

Auf der „Athenia" könnte man eigentlich beruhigt gegenüber der Gefahr von U-Bootangriffen sein, denn Hitler selbst hat die Marine ausdrücklich angewiesen, keine unbewaffneten Passagierdampfer anzugreifen, denn er will unbedingt einen zweiten Fall „Lusitania" vermeiden. Dieser Dampfer mit hunderten von Bürgern der noch neutralen USA an Bord war 1915 versenkt worden, was für internationale Empörung sorgte und auch zum späteren Kriegseintritt der Amerikaner mit beitrug. Auch die 13.581 BRT große „Athenia" hat 316 neutrale US-Bürger an Bord, fährt zur Sicherheit aber trotzdem abgeblendet und im Zickzackkurs.

Vorbei an Hitlers Weisung hat Vizeadmiral Karl Dönitz als Führer der U-Boote (später „BdU" = Befehlshaber der U-Boote) allerdings seinen U-Bootfahrern keine solche klare Richtlinien verpasst. Es ist dem gewieften Taktiker gelungen, seine Boote unbemerkt von den Briten auf Gefechtspositionen im Atlantik zu bringen. Als die englische Kriegserklärung mit dem Befehl „Total Germany" an die Flotte durchgegeben und deutscherseits entschlüsselt wird, gibt er seinen Kommandanten den Befehl zum sofortigen Angriff. Ohne besonderen Hinweis auf die Einhaltung der Prisenordnung und Hitlers Weisung bezüglich Passagierdampfern.

Und diesen Befehl beherzigt auch Oberleutnant Fritz-Julius Lemp, mit 26 Jahren jüngster Kapitän der U-Bootflotte auf U 30. Offenbar bewertet er den großen Dampfer, der ihm da in der hereinbrechenden Dämmerung ins Sichtfeld kommt, als Truppentransporter oder gar einen der gefürchteten bewaffneten Hilfskreuzer. Einer der drei abgefeuerten Torpedos trifft das Schiff um exakt 19:39 Uhr mittschiffs, wobei sofort rund 50 Menschen getötet werden. Die folgenden Abläufe werden minutiös geschildert und machen die ganze Dramatik deutlich, die jeden Schiffskatastrophenfilm übertrifft, durch die viele Einzelschicksale bei aller präzisen Sachlichkeit sehr persönlich werden.

Lemp aber erfährt schon durch die Funkrufe des Dampfers, dass er einen fatalen Fehler begangen hat, und er leitet den ersten Schritt zu einer bis Kriegsende erfolgreichen Verschleierung ein: er meldet den Erfolg nicht an den FdU und er fälscht sogar das Kriegstagebuch. Daheim bleibt Lemps Angriff ebenfalls geheim und auch dort werden die Fakten unterdrückt, während das Propagandaministerium sogar dreist das Gerücht in die Welt setzt, die Briten selbst hätten das Schiff versenkt, um den Deutschen einen erneuten „Lusitania"-Skandal anhängen zu können. Tatsächlich bleibt der Fall quasi ungelöst und das selbst, nachdem ein Teil von Lemps Mannschaft in Gefangenschaft gerät, denn der hatte sie einen Eid auf Verschwiegenheit ablegen lassen.

Die Rettung der Schiffbrüchigen gestaltet sich trotz recht ruhiger See und genügend Rettungsbooten schwierig und fordert weitere Opfer, wie später auch tragische Missgeschicke bei der Aufnahme der Geretteten durch verschiedene herbeieilende Schiffe. Die Zahl der Toten steigt auf 118.

Rademacher schildert Szenen von Glück und von Trauer, als endlich alle Überlebenden in Glasgow ankommen. Das ebenso atmosphärisch dicht wie spannend beschriebene Geschehen wird schließlich abgerundet durch die Ausführungen zu den Verhandlungen der überlebenden Amerikaner, die sich sehr kompliziert gestalten, aber auch zum weiteren Schicksal von Kapitän Lemp. So geheim, wie sein fataler „Athenia"-Erfolg verblieb, so geheim blieb nämlich ein kriegswichtiger Erfolg der Briten ausgerechnet durch ihn: als sie 1941 sein neues Boot U 110 versenkten, gelang es ihnen, zuvor Codebücher und eine der genialen Enigma-Verschlüsselungsmaschinen aus dem Boot zu retten – und das ebenso erfolgreich geheimzuhalten, so dass die deutsche Marine nicht ahnte, dass ihr Funkverkehr nun entziffert werden konnte.

Die Wahrheit über Lemps Verantwortung für die Versenkung der „Athenia" kam erst im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess endgültig ans Licht, denn erst nach Kriegsende packte ein dabeigewesener U-Bootmann aus. Die Angeklagten Großadmiral Raeder und der BdU Dönitz leugneten nicht mehr. Einen Einfluss auf ihre Urteile hatte die Versenkung jedoch nicht. Fazit: ein exzellentes Sachbuch, das ein kaum recht bekannt gewordenes Geschehen endlich mit allen Facetten ins Bewusstsein rückt.

 

# Cay Rademacher: Drei Tage im September. Die letzte Fahrt der Athenia 1939; 319 Seiten, div. Abb.; Marebuchverlag, Hamburg; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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