HANNAH TINTI: „DIE LINKE HAND"

Mäkel zu haben, war für ein Waisenkind schon immer ein schwerwiegender Hinderungsgrund, um per Adoption ein vielleicht besseres Schicksal zu erlangen. Der elfjährige Ren aber hat als Kleinkind seine linke Hand verloren und darbt im Saint Anthony Waisenhaus in den Neuenglandstaaten. Man schreibt die Mitte des 19. Jahrhunderts, im Wilden Westen werden die Indianer bekämpft und hier im noch kargen Osten brauchen die Farmer kräftige, gesunde Jungs, wenn sie schon ein Kind adoptieren. Was mit Nächstenliebe ohnehin wenig zu tun hat.

Ren ist ein trauriger Junge ohne Hoffnung und wie den anderen Kindern erteilen ihm die Ordensbrüder grad so viel Unterricht, dass er die Bibel lesen und bei einfachen Geschäften nicht von den bösen Protestanten betrogen werden kann. In seinem Hunger nach Zuwendung kann man nur zu gut verstehen, als welch ein unermessliches Glück es ihm da erscheinen muss, wenn Benjamin Nab auftaucht. Dieser Ex-Soldat stellt sich als Rens verschollener Bruder vor und erzählt den Ordensbrüdern eine krude Geschichte über Rens Eltern, wie sie bei Indianerüberfällen umkamen und warum Ren als Baby dabei seine linke Hand verlor.

Die linke Hand" lautet auch der Titel des grandiosen Debütromans der US-Autorin Hannah Tinti, der fast im Handumdrehen aus dem beklagenswerten Schicksal des Jungen ein Happy End zu schmieden scheint. Der ebenso naive wie gutmütige Ren wird so zwar von der Misere des Waisenhauses befreit, doch um welchen Preis: Nab stellt sich als Lügner und Trickbetrüger heraus, der auch nicht sein Bruder ist. Stattdessen rechnet er sich mit dem behinderten Jungen Mitleidseffekte bei seinen Schwindelunternehmen aus. Aber selbst, als sich mit dem Trunkenbold Tom, den Zwillingen Brom und Itchy und einem Zwerg immer mehr seltsame Gestalten um Nab scharen, um ihren Lebensunterhalt mit Gaunereien zu verdienen, erscheint Ren das Alles besser als Saint Anthony.

Was mit ihm in dieser für ihn so fremden Welt nun geschieht, sind Abenteuer, als hätten sich Charles Dickens, Robert Lewis Stevenson und Mark Twain dafür zusammengetan, und zugleich gelingt es der Autorin mit faszinierend leichter Hand, daraus eine mitreißende Geschichte zu formen. Die fesselt nicht zuletzt dadurch, dass der Leser alles aus Rens Sicht erfährt, sein gottesfürchtiges Staunen über all die Lagerfeuer- und Lügengeschichten, seine unermessliche Furcht, wenn er mit einer ganzen Wagenladung Leichen allein ist.

Die spielen ohnehin eine gewichtige Rolle, denn durch Nab wird die gesamte kleine Bande zu Grabräubern, als sie in das Bergbaustädtchen North Umbrage kommen – ein Schauplatz, wie ihn Charles Dickens nicht düsterer und skurriler hätte erfinden können. Während der tyrannische McGinty mit seinen brutalen Zylinderträgern die nach einem Minenunglück quasi männerfreie Stadt beherrscht und all die Jungfrauen und Witwen in seiner Mausefallenfirma schuften lässt, klauen Nab und sein Gefolge Leichen vom Friedhof, um sie zu verhökern.

Natürlich kommt es zu einem wilden Finale zwischen diesen beiden Gruppierungen, nachdem Ren auch vorher schon heftige Gefahren durchleben musste. Gerade er aber, der im Gegensatz zum Dauerlügner Nab die Ehrlichkeit in Person ist, stößt in höchster Not mit einem Lügenmärchen auf unerwartete Wahrheiten. Mehr sei hier jedoch nicht verraten. Erzählt wird das Alles voller Mysterien, rauer Poesie und beklemmenden Bildern. Dieser Roman bietet ein grimmiges Vergnügen mit stark erfundenen Figuren. Für Zartbesaitete ist er jedoch nicht zu empfehlen, denn wie in den Dickens-Welten sind Härte und Niedertracht an der Tagesordnung. Souveräne Erzählkunst und manch schwarzhumorige Passagen machen „Die linke Hand" gleichwohl zu einem literarischen Juwel mit einer unvergesslichen Geschichte.

 

# Hannah Tinti: Die linke Hand (aus dem Amerikanischen von Irene Rumler); 367 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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