DAVID BENIOFF: „STADT DER DIEBE"

David Benioff hat russische Vorfahren und für seinen neuen Roman „Stadt der Diebe" bringt der erfolgreiche US-Drehbuchautor seinen Großvater dazu, von seiner Zeit im Zweiten Weltkrieg in Leningrad zu erzählen, als die Stadt von 1941 bis 1944 von deutschen Truppen eingekesselt war und eine Millione Menschen durch Hunger und andere Qualen starben. Doch so einiges scheint nicht recht zueinander zu passen, der alte Lew Beniff aber, in die USA emigrierter Jude aus dem heutigen Sankt Petersburg, blockt ab und sagt: „David, du bist der Schriftsteller. Denk dir was aus."

Das tut der Enkel und diese Geschichte, bei der sich der Alte und die Großmutter in den schlimmsten Kämpfen kennenlernen, ist ein verwegenes Stück Kriegsliteratur, das ebenso skurril und makaber aufscheint, wie es das ganze Grauen und die Absurdität des Krieges grandios einfängt. Der 17-jährige Lew, der das alles selbst erzählt, wird erwischt, als er Anfang 1942 einen abgesprungenen toten deutschen Piloten ausplündert. Klarer Fall für die Exekution, doch ein seltsames Schicksal will es anders.

Lew und der Deserteur Kolja, ein pfiffiger Kosake und Frauenheld, der ebenfalls geschnappt wurde, werden von einem allmächtigen NKWD-Oberst zu einem Sondereinsatz befohlen: seine Tochter soll in einer Woche heiraten und für die Hochzeitsfeier benötigt er ein Dutzend frische Eier – beschaffen die Beiden die bis dahin, sind sie frei. Woher aber sollen sie in der ausgehungerten Riesenstadt ausgerechnet solche Schätze nehmen?!

Es beginnt eine bizarre Jagd, die das herzlich ungleiche Paar durch den deutschen Belagerunsgring führt, denn draußen in einem der Dörfer könnte es noch am ehesten Eier geben. Logisch, dass der Tod an jeder Ecke und hinter jedem Baum lauert, egal, ob von deutschen Soldaten, einheimischen Kannibalen, eigenen Partisanen oder schlicht und einfach durch Hunger und Kälte. Es geht durch surreale Landschaften, sie finden Soldaten, die noch im Tod steifgefroren Wache stehen, aber auch ein Bordell, in dem Landmädchen für das Vergnügen der deutschen Offiziere gefangen gehalten werden.

Auf ihrer Odyssee vertreiben sich der schüchterne Schachspieler Lew, der als Jungfrau auch noch pubertären Träumen nachhängt, und der schlitzohrige Möchtegern-Schriftsteller Kolja die ruhigen Momente mit Geschichten über Sehnsüchte, über Literatur und andere völlig deplatzierte Themen und sie gehen einander auf die Nerven. Und sind dennoch Partner in gemeinsamer Not, zumal nachdem sich Lew in die als Junge verkleidete Scharfschützin Vika verliebt und sie zusammen von den Deutschen gestellt werden. Dann stehen sie dem Kommandeur einer der gefürchteten Einsatzgruppen gegenüber, von dessen barbarischen Untaten sie bereits gehört haben, und es kommt zum atemberaubenden Höhepunkt des längst zum Thriller gewordenen Romans, einem Schachspiel zwischen dem dämonischen Nazi-Schergen und dem kleinen jüdischen Lew um das nackte Leben. Und den gesuchten Schatz, die Eier für den Oberst.

Der blanke Irrsinn des Geschehens fesselt mit all den Schießereien, brutalen Handgemengen und Fluchten in letzter Sekunde, zugleich aber auch mit dieser faszinierenden Mischung aus naivem Heldentum und herbem Galgenhumor, der immer wieder frösteln lässt. Bis sich der Kreis dieses absolut filmreifen Geschehens zu jenem Eingangssatz des scheinbar biografisch erzählenden Autors schließt: „Mein Großvater, der Messerstecher, tötete zwei Deutsche, bevor er achtzehn war." Fazit: ein Kriegsroman, der in seiner Kuriosität und Meisterschaft das Grauen jeglichen Krieges auf ungewöhnliche Weise unvergesslich macht.

 

 

# David Benioff: Stadt der Diebe (aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner); 383 Seiten; Karl Blessing Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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