DORIS LESSING: „ALFRED UND EMILY"

Doris Lessing ist 89 Jahre alt und dennoch gelingt es ihr erneut, mit einer literarischen Spezialität zu überraschen. Die Literatur-Nobelpreisträgerin von 2007 legt mit „Alfred und Emily" eine ungewöhnliche Mischung aus Roman und Biografie zu ihren eigenen Eltern vor.

Im fiktiven ersten Teil erzählt sie das Leben der Beiden als Neuerfindung, in der es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hat, der beider Schicksal in Wirklichkeit so massiv prägte. Hier gelingt Alfred die Umsetzung seines Traums, Landwirt im südlichen England zu werden. Er heiratet seine Bekannte Betsy und sie bekommen vier Söhne. Doris Lessings Mutter Emily heiratet zwar auch, doch obwohl dieser Mann ihre große Liebe ist, bleibt die Ehe bis zu seinem frühen Tod unglücklich und kinderlos. Erfüllung findet die Witwe dann jedoch bei ihrem intensiven sozialen Engagement.

Mit der bekannt hohen Erzählkunst vermag dieser Teil zwar zu überzeugen, wirklich fesselnd jedoch wird erst der reale Teil, die tatsächliche Biografie der Eltern, deren Lebensweg von den Kriegsereignissen quasi aus der Bahn geworfen wurde. Hier begegnen sie einander im Hospital, er mit zerschossenem Bein, sie als Krankenschwester. Beide leiden unter den Gespenstern ihrer Erinnerungen und wo es bei Alfred jene vom Schrecken der Schützengräben mit all den toten Kameraden sind, kann Emily das Elend der Verwundeten ebenso wenig vergessen wie ihre große Liebe, der Mann, der ertrunken ist.

Doch auch der gemeinsame Versuch, nach dem Krieg mit einer kleinen Farm in Afrika ein neues Glück aufzubauen, scheitert zur Verbitterung beider. Tochter Doris, zeitlebens geprägt und bedrückt durch die unglückliche Kindheit, setzt ihren Eltern ein mitfühlendes Denkmal und zugleich den Millionen von Menschen, denen nicht nur dieser erste Weltkrieg ein glücklicheres Leben versagt oder unmöglich gemacht hat. Fazit: dieses Werk ist die bewegende Bilanz zweier Menschenleben samt eines Gegenentwurfs auf hohem literarischen Niveau.

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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