EMMA BRASLAVSKY: „DAS BLAUE VOM HIMMEL ÜBER DEM ATLANTIK"

Auch im realsozialistischen Thüringen begann am 11. im 11. regelmäßig die Karnvealszeit und mit ihr das Verkleiden. Am 11. 11. 1982 hätte das jedoch als pietätlos gegolten, denn am Vortag war der sowjetische Staatschef Breschnew verstorben und auch hier im ländlichen Lauterbach wären Kostüme und Feiern an sich verpönt gewesen. Allerdings springen hier sogar Maskierte um den Friedhof herum und sorgen für makabres Beiwerk zur Beerdigung von Elfriede Stamm-Bluhme.

Doch im Trauermarsch wirken die sieben Kinder der Verblichenen ohnehin wie Mannequins einer Herbstmützenkollektion und ihr Chor ist von Disharmonie geprägt. Was wunder, fehlt ihnen doch dank dreier verschiedener Väter, mangels Zuwendung seitens der Mutter sowie sehr unterschiedlicher eigener Lebensläufe jeglicher Familiensinn. Das wirklich Verbindende ist lediglich ein mühsam verfolgtes Familiengeheimnis und das unlösbare Rätsel um Großmutter Esther.

Zu diesem ungewöhnlichen Figurenkanon gesellt Emma Braslawsky in ihrem zweiten Roman „Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik" noch den ältestens Bruder der sieben, der vor zehn Jahren auf nie geklärte Weise umkam und sich nun mit eigener Stimme einmischt. Aber auch die sieben haben jeder eine eigene, unverwechselbare Stimme und jede davon versucht am Sarg der Mutter den Schleier der Ungewissheiten über die eigene Herkunft, über Mutters Schweigen zu ihrer Lebensgeschichte mit der Flucht aus Schlesien und ihrem wahren Familienhintergrund mit Hilfe von Vermutungen und Nachbohren bei den Geschwistern zu lüften.

Das größte Rätsel bleibt dabei die geheimnisvolle Großmutter, die offenbar noch mehr Pech mit Männern hatte als Tochter Elfriede und zugleich mindestens ebenso empanzipiert war. Der Gipfel aller üblen Erlebnisse war dabei der Tod von Elfriedes Vater, den die Großmutter umgebracht haben soll, als er sie im Suff vor den Augen seiner drei Töchter vergewaltigen wollte. Doch welche Version der makabren Szene die zutreffende ist, bleibt offen. Tatsache war allerdings, dass Elfriede ihrer Mutter die Tötung des Vaters nie verzeihen konnte, egal, wie berechtigt sie gewesen sein mochte.

Das hört sich skurril an und das ist es auch und dennoch mit hinreißender Leichtigkeit und Souveränität erzählt, Die Autorin gibt jedem der Geschwister eine individuelle Gestalt bis hin zum stotternden NVA-Offizier und dem salbadernden Pfarrer. Voller Kauzigkeit und doch auch mit einer gewissen Tragikomik fesselt diese vielschichtig mysteriöse Geschichte, in der selbst Mutters Wellensittich „Cowboy" - sie schwärmte immer für das unerreichbare Amerika! - für schräge Beigaben sorgt, wenn er die Verstorbene anknabbert. Eine solche ebenso komplizierte wie anspruchsvolle Konstruktion hätte leicht zur lächerlichen Farce werden können, Emma Braslavsky aber macht mit Stil und Intelligenz eine meisterhafte Zeremonie der Erinnerungen daraus.

 

# Emma Braslavsky: Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik; 392 Seiten; Claassen Verlag, Berlin;

€ 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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