P.REICHARDT: „AUF EINMAL WAR ER NICHT MEHR DA"

Am Samstag telefonierte Philip Reichardt noch mit seinem Vater, Sonntagabend sprach der ihm etwas auf die Mailbox, Montag früh um 7 Uhr erhält der Sohn den Anruf, dass der Vater tot ist. Umgehend fährt er zur Wohnung des Verstorbenen und erlebt die ganze Rat- und Rastlosigkeit, die für so viele mit dem Abschied eines Elternteils verbunden ist.

Unter dem Titel „Auf einmal war er nicht mehr da" hat der renommierte Journalist diesen in vielem durchaus exemplarischen Lebenseinschnitt niedergeschrieben. Der Beweggrund trifft viele Hinterbliebene schlagartig – die Gewissheit, überraschend wenig über den soeben gegangenen Menschen zu wissen. Was weiß man schon wirklich über seine Eltern und zwar nicht nur aus den oft genug von Kontaktarmut geprägten Jahren nach dem Flüggewerden und dem Aufbau einer eigenen Familie. Was wissen wir, warum sie so wurden, wie wir sie kennengelernt haben, schließlich hatten sie auch ein Leben, bevor sie zu unseren Eltern wurden.

Ein Sohn, ein Vater, eine Spurensuche" nennt Reichardt das, was nun für ihn einsetzte, denn jetzt beginnt die Suche nach dem vielen, was er vom Vater nicht wusste oder nicht deuten konnte. Was offenbart die großzügige, vollgestopfte Wohnung des ehemals erfolgreichen Journalisten und Verlegers, wie viel Informationen geben ein alter Koffer, Schubladen voller Fotos, Unterlagen, Briefwechsel und vieles mehr preis vom tatsächlichen Wesen des ebenso lebensfrohen wie widersprüchlichen Vaters? Je mehr der Sohn findet, desto mehr wird ihm das Ausmaß seines Nichtwissens bewusst. Selbst der Fund eines Tagebuches aus Jugendzeiten zeichnet zwar ein teilweise amüsantes Bild des Verstorbenen, dennoch bleibt vieles aus dem so unten Leben undeutlich.

Konkrete Kriegserfahrungen, frühes Liebesleben oder auch das spätere nach der Scheidung, alles bleibt vage und viele Antworten sind einseitige Interpretationen, weil Nachfragen nicht mehr möglich ist und auch Zeitzeugen nicht mehr vorhanden sind. Wie ein Archäologe erforscht der Sohn das unmittelbare Lebensumfeld des Vaters und erkennt im Angesicht all der Versäumnisse von Nähe und Kennen eines auch für sich selbst: „Man räumt nicht nur die Reste eines erloschenen Lebens auf, man ordnet zugleich das eigene."

Das Berührende an diesem Bericht eines hinterbliebenen Sohnes liegt insbesondere in dem sehr sensiblen und zugleich bei aller persönlichen betroffenheit wohltuend sachlichen Stil. Und er geht über das interessante Einzelschicksal weit hinaus in der Erkenntnis, wie fließend die Möglichkeiten und die Grenzen dessen sind, was wir im Nachhinein von einem nahestehenden Menschen wissen oder noch entdecken können.

 

# Philip Reichardt: Aus einmal war er nicht mehr da. Ein Sohn, Ein Vater, eine Spurensuche; 254 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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