JOYCE CAROL OATES: „NACH DEM UNGLÜCK SCHWANG ICH..."

Als die 15-jährige Jenna nach dem schweren Unfall allmählich aus dem Wachkoma aufwacht, ist ihr Leben völlig aus der Bahn geworfen. Sie hat nicht nur schwere Verletzungen erlitten, sie ist auch traumatisiert von dieser halben Sekunde, in der man zu begreifen beginnt, dass alles außer Kontrolle gerät und etwas Schreckliches unausweichlich passieren wird.

Da sind diese unvergesslichen Bilder mit ihrer Mom in dem Auto auf der Tappan-Zee-Brücke und dem Lastwagen. Und das furchtbare Schuldgefühl, weil sie nicht weiß, ob es nicht doch ihre Schuld war, dass ihre geliebte Mutter nun tot ist. Aus diesem schicksalhaften Auftakt hat die große US-Autorin Joyce Carol Oates unter dem Titel „Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon" eine Geschichte entwickelt, die mit ihrer fast schmerzhaft klaren Sprache und der gnadenlosen Selbstanalyse der Ich-Erzählerin Jenna tief unter die Haut geht.

War sie vor der Katastrophe eine sportliche und beliebte Schülerin, zieht sie sich nun auch innerlich tief verletzt in sich selbst zurück. Mit dem Vater, der vor Jahren eine neue Familie im fernen Kalifornien gründete, will sie nichts zu tun haben, deshalb kommt sie bei Tante Caroline und Onkel Dwight ganz im Osten in New Hampshire unter, doch die Fürsorge der Beiden ist ihr ebenso gleichgültig wie die Zuneigung von deren beiden jüngeren Kindern. In ihrem Schmerz und ihrer offenbar unbezwingbaren Trauer kapselt sie sich ab und betäubt sich immer öfter mit Pillen und Alkohol. Und dann rutscht sie unwillentlich durch ein Übermaß in einen lebensbedrohlichen Zustand.

Sie übersteht diese Krise, aber sie gerät an die haltlose Trina und durch sie in eine noch bedrohlichere, ja sogar lebensgefährliche Situation. In ihrer Hoffnungslosigkeit scheint schließlich Crow die letzte Chance zu sein, ein seltsam geheimnisvoll wirkender Mitschüler und zugleich der einzige Mensch, dem sie sich anzuvertrauen vermag. Ob er die richtigen Antworten auf ihre vielen Ungewissheiten und Fragen hat? Und – mag er sie wirklich so, wie es für sie wichtig wäre?

Bis zuletzt fesselt dieser grandiose Jugendroman dank seiner zwingenden Bilder und der eindringlichen Genauigkeit der Charakterzeichnungen. Die widerstreitenden Empfindungen, die Nöte und diese lautlosen Schreie nach Hilfe und Zuwendungen sind absolut glaubwürdig erfasst und werden keinen Leser ab etwa 13 Jahren unberührt lassen. Fazit: kein leichter Lesestoff aber ein Meisterwerk der Jugendlektüre.

 

# Joyce Carol Oates: Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon (aus dem Amerikanischen von Brigitt Kollmann); 268 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; € 16,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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