M. J. HYLAND: „DIE LISTE DER LÜGEN"

John Egan ist sehr groß für seine elf Jahre und auch schon im Stimmbruch. Dass er zum Sonderling geworden ist, verwundert wenig, denn seine Familie erweist sich als ein launisches Trio aus dem arbeitsscheuen Vater, der zuweilen zu Prostituierten geht, der depressiven Mutter und der harschen Großmutter. Liebe und Zuwendung sind Mangelware in diesem dumpfen Zuhause und seinen einzigen Schulfreund verliert John auch bald.

Eine ungewöhnliche Geschichte hat M. J. Hyland aus dieser Konstellation in ihrem zweiten Roman entwickelt. „Die Liste der Lügen" spielt in einer irischen Kleinstadt in den 70er Jahren und der Junge erzählt alles selbst und das auf eine seltsam fesselnde Weise. Spätestens seit er in der Schule eingenässt hat, fühlt er sich als Außenseiter. Und zugleich als mit einem besonderen Talent gesegnet: er empfindet sich als menschlichen Lügendetektor.

Er vermeint, sämtliche Lügen seiner Mitmenschen zu durchschauen und er sammelt sie wie ein akribischer Buchhalter auf einer Liste. Mit intensiven Beobachtungen meint er, die richtigen Schlüsse aus dem Verhalten der Erwachsnene ziehen zu können und wird zugleich selbst zu einem zwanghaften Lügner. Sogar für den Leser wird er zu einem unzuverlässigen Berichterstatter. Der dennoch immer mehr dessen Herz gewinnt, wenn er sich in den Wahn steigert, mit seiner eingebildeten Gabe ins Guiness-Book der Rekorde zu kommen. Nur zu gut spürt man hinter dieser Attitüde das heftige Verlangen nach Liebe und Zuwendung, das dem überaus feinfühligen verunsicherten Jungen jedoch allenfalls sporadisch erfüllt wird. Und man leidet mit ihm.

Die Eltern aber sind viel zu sehr mit ihrer drückenden Ehemisere beschäftigt. Auf Johns Auffälligkeiten reagiert die Mutter statt mit Verständnis und Liebe mit der Forderung nach ärztlicher Hilfe, doch er lehnt so etwas ebenso ab wie Eingriffe seitens der Lehrer. Stattdessen meint er im gestörten System der Familie etwas unter der Oberfläche brodeln zu hören und das gipfelt darin, dass er eine üble Lüge seines Vaters aufdeckt mit ungeahnten Folgen.

Die Liste der Lügen" schafft eine nahezu beklemmende Nähe zwischen Erzähler und Leser und fesselt mit herber Prosa, die nicht wieder loslässt. Die irische Autorin hält die jugendlich naive Erzählweise konsequent und meisterhaft durch und lässt die Qual erahnen, wenn eine Kindheit auf dem Weg zum Erwachsenwerden an der Unaufrichtigkeit und Unzuverlässigkeit der Familie in Hilflosigkeit und die Flucht in eine Art manisch-depressiven Autismus mündet. Fazit: ein tief bewegender Roman, der zu Recht für den Booker Prize nominiert wurde.

 

# M. J. Hyland: Die Liste der Lügen (aus dem Englischen von Ingo Herzke); 381 Seiten; Piper Verlag, München; 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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