HELMUT KOHL: „ERINNERUNGEN 1990 – 1994"

Kanzler der Einheit, mit diesem Prädikat schmückt sich Helmut Kohl besonders gern und durchaus nicht zu Unrecht. Dass ihm deshalb die Jahre von 1990 bis 1994 als Herzstück und Höhepunkt seiner langen Regierungszeit gelten, ist absolut gerechtfertigt. Dies um so mehr, wenn man bedenkt, wie weit sein Stern in seiner eigenen Partei 1989 bereits abgesunken war – bis hin zu Putschplänen gegen ihn auf dem Bundesparteitag und einem beschämend schwachen Wahlergebnis dort – so dass der unerwartete Mauerfall vom 9. November 1989 ihn quasi wie Phönix nicht nur aus der Asche holte sondern in höchste Höhen aufsteigen ließ.

Der Triumph dieser Zeit schlägt sich überdeutlich in Kohls drittem Teil seiner Memoiren nieder, der nun als „Erinnerungen 1990 – 1994" vorliegt. Eine geschickte Wahl, umfasst sie doch jene hohe Zeit von der siegreichen letzten DDR-Wahl über den Tag der Wiedervereinigung bis zum Abzug der letzten sowjetischen bzw. russischen Truppen im Sommer 1994, der die vollständige Souveränität Deutschlands besiegelte. Schon die angehängte Zeittafel macht dabei deutlich, in welchem Umfang Kohl an diesen historischen Ereignissen mitwirkte, großenteils nicht nur aktiv sondern auch in entscheidender Weise durch eigenes Tun.

Wie er selbst betont, betreibt er keine Geschichtsschreibung sondern Erinnerungsarbeit, die allerdings akribisch und er nutzt den großen Vorteil etlicher Quellen, die für Wissenschaft und Forschung noch für längere Zeit nicht zugänglich sein werden. Ja, es sind Entscheidungsjahre, in denen das Schicksal Deutschlands und Europas in neue Bahnen gelenkt wurde und Kohl war eine der prägenden Persönlichkeiten in diesem Ringen. Wenn man seine Ausführungen unter dem Aspekt liest, dass er legitimerweise aus seiner sehr eigenen Sicht berichtet und bekanntlich ebenso wenig zu Selbstkritik wie zur Kompromissbereitschaft neigt, sind das ausgesprochen spannende Darlegungen.

Zu den interessantesten Schilderungen gehören dabei jene aus dem Sommer 1990 vom Ringen um möglichst viel Souveränität der zu vereinigenden Deutschland West und Ost. Was Kohl seinem Freund Michail Gorbatschow in den berühmten Gesprächen im Kaukasus abgerungen und der finanziell maroden Sowjetunion abgekauft hat, liest sich wie aus einem Politroman. Noch einmal wird deutlich, wie alles entscheidend Gorbatschows Handeln und die von Kohl erreichten Zugeständnisse für den nicht von allen Seiten umjubelten Riesenerfolg waren. Ein stolzer Altkanzler gibt hier immerhin im Rückblick zu: „Aber natürlich gehörte auch Fortüne dazu."

Während er ansonsten in seinem Reden und Agieren über diese Hochzeit fast nur Positives zu erkennen vermag und all die längst erkannten Fehleinschätzungen bei Währungseinheit, Widervereinigung und der Bewertung des Vermögens der DDR bei ihm entweder nicht vorkommen oder den „Miesmachern" von der SPD vorbehalten bleiben, überrascht er mit dem Bekenntnis, „auch Fehler gemacht" zu haben. „Die psychologische Tiefe der Trennung" habe er unterschätzt und auch den Zeitraum, bis es die versprochenen „blühenden Landschaften" geben werde: „Ich glaube, man braucht noch eine Generation."

Eher eine Bestätigung sind manche Sympathiebekundungen, aber auch die negativen wie zu von Weizsäcker, de Maiziere oder Hildegard Hamm-Brücher verwundern nicht wirklich. Ätzende Wut dagegen kommt auf bei den Erinnerungen an den Fall Bad Kleinem, als der Terrorist Grams getötet wurde – noch heute schäumt Kohl gegen „Monitor" und „SPIEGEL" und hier insbesondere gegen Hans Leyendecker wegen der „böswilligen Unterstellungen", Grams sei von der GSG 9 liquidiert worden. So glaubhaft des Altkanzlers Empörung aus seiner Sicht erscheint, so zweifelhaft wirken die Bekundungen über seine Rolle beim Ableben Willy Brandts im Oktober 1992, wenn er sich als einer der engsten Vertrauten des großen alten Staatsmannes geriert.

Die vielleicht größte Überraschung des dritten Bandes seiner Memoiren aber spart sich der Taktierer bis zum letzten Kapitel auf, das mit der recht kargen Beschreibung des knappen Bundestagswahlsieges vom Oktober 1994 endet. Und der Bemerkung, er habe für sich beschlossen gehabt, Mitte der Legislaturperiode das Amt aufzugeben zugunsten Wolfgang Schäubles als einzig denkbarem Nachfolgekandidaten. Bekanntlich kam dann fast alles ganz anders und die in Band 3 nur am Rande erwähnte Angela Merkel wird dann in Band 4 ganz sicher breiteren Raum einnehmen. Man darf gespannt darauf sein und sollte diese Erinnerungen als solche genießen – Memoiren dürfen subjektiv sein, sie sind kein Sachbuch....

 

# Helmut Kohl: Erinnerungen 1990 – 1994; 784 Seiten, div. Abb.; Droemer Verlag, München;

€ 29,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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