WOLFRAM PYTA: „HINDENBURG"

Es erinnert an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, was der Historiker Wolfram Pyta mit einer der wichtigsten Figuren der neueren deutschen Geschichte macht, wenn er in seiner großen Biographie „Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler" den Feldherren und späteren Reichspräsidenten gründlich entzaubert. Das gelingt ihm mit seinem akribisch recherchierten Werk in so atemberaubender Weise, dass man sich fragen muss, wieso der wahre Hindenburg bis heute derartig harmlos bewertet und noch immer durch zahlreiche Straßenbenennungen und ähnliches als deutsche Lichtgestalt verehrt wird.

Pyta entlarvt den Volkshelden Paul von Hindenburg (1847-1934) als ursprünglich unbedeutenden Militär, der mit 67 Jahren in den ersten Wochen des Ersten Weltkrieges reaktiviert wurde und dann eine ebenso großartige wie verhängnisvolle Karriere macht, in der er gleich zweimal den Untergang des Deutsches Reiches als Schlüsselfigur mitverschuldet. Doch der Historiker führt den überzeugenden Nachweis, dass diese stattliche vermeintliche Vaterfigur dabei nicht nur vom Glück begünstigt war oder zum Ende der Weimarer Zeit als politisch naiver Greis nur den Einflüsterungen ostelbischer Junker nachgegeben hat.

Schon der Auftakt als Oberbefehlshaber bei der so genannten Schlacht von Tannenberg zeigt Hindenburgs Raffinesse in der Selbstdarstellung, denn das Verdienst des ebenso tollkühnen wie überwältigenden Sieges über die überlegene russische Armee kommt fast ausschließlich dem exzellenten Generalstabschef Erich Ludendorff zu. Während der phlegmatische Genießer Hindenburg diesen Hitzkopf einerseits walten ließ, führte er sich selbst dem Volk als den eigentlichen Sieger vor. Den Aufbau des eigenen Ruhmes bis zum Mythos untermauerte er geschickt mit der offiziellen Verlegung des Schlachtenortes von Allenstein in jenes legendäre Tannenberg, wo einst die Ritter des Deutschen Ordens von den Slawen besiegt worden waren.

Hindenburg avancierte schließlich 1916 sogar zum Chef der Obersten Heeresleitung, womit er zum Hauptverantwortlichen der militärischen Katastrophe wurde. Zugleich polierte er intensiv die Heldenverehrung im Volke, indem er eine geradezu professionelle und instinktsichere Öffentlichkeitsarbeit betrieb. Ganz im Gegensatz zu Kaiser Wilhelm II., der jegliche Medienpräsenz vernachlässigte, weil er sie für unter seiner Würde erachtete. Hindenburgs Selbstinszenierung beweist ausgeprägtes Gespür für die politische Lage und den Aufbau eines Charismas, das zunächst mitverantwortlich für die immense Durchsetzungsfähigkeit missliebiger Entscheidungen beim Kaiser ist.

Gerade seinem Herrscher gegenüber aber zeigt der monarchistische Berufsoffizier seinen ganzen kalten Egoismus, mit dem er jeden fallen lässt, der entweder seinen Mythos bedroht oder ihm nicht mehr nützlich ist. Als Wilhelm II. Ludendorff in der prekärsten Kriegssituation im Herbst 1918 entlässt, nutzt Hindenburg dies dauerhaft aus, da jetzt an jenem der Ruf des Kriegsverlierers haftet, den eigentlich Hindenburg verdient gehabt hätte. Und der Ränkeschmied geht noch einen Schritt weiter, als er den Kaiser zu Abdankung und Exil drängt. Was er später bestreitet, hier aber wird es spannend en detail offengelegt.

Nach dieser zentralen Entscheidung zum Sturz der Monarchie vom 9. November 1918 verbleibt der Oberbefehlshaber selbst jedoch vorläufig weiter im Amt. Und es gelingt dem militärisch gänzlich gescheiterten Feldmarschall, seinen Nimbus als vertrauenswürdiger Volksheld aufrecht zu erhalten, während er zugleich als genialen Schachzug für die Entstehung der Dolchstoß-Legende sorgt, nach der die unbesiegte Armee nur kapitulieren musste, weil die politischen Kräfte daheim ihr in den Rücken gefallen sind. Aber auch seine Zustimmung für das folgenreiche Versailler Diktat von 1919 verstand Hindenburg geschickt zu verheimlichen.

In den Wirren der Weimarer Republik begann der Erzkonservative, der Republik und Demokratie grundsätzlich verabscheute, mit 77 Jahren eine noch fatalere Karriere, als er sich 1925 zum Reichspräsidenten wählen ließ. Autor Pyta streicht hier brillant heraus, in welchem Maße dieser kaum mittelmäßige Nicht-Politiker sich die Zuschreibung außergewöhnlicher Fähigkeiten bei der Bevölkerung erworben hatte und zu nutze machte, obwohl ihm das Charisma eines Napoleon oder Hitler gänzlich abging. Doch die Entlarvung Hindeburgs geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, denn hier wird der Beweis erbracht, dass das greise aber immer noch klare Staatsoberhaupt Adolf Hitler aus eigener Überzeugung an die Macht kommen ließ: in seinem Testament nennt er ihn „seinen Kanzler", denn er sah in dem Nazi-Führer einen politischen Kopf, der ähnlich völkisch national-autoritär dachte wie er selbst.

Paul von Hindenbburg wird in dieser ersten umfassenden Biographie auf der Grundlage historischer Fakten endlich von dem weitgehend selbst errichteten Sockel des kaiserlichen Helden von Tannenberg und gütigen, aber missbrauchten Landesvaters heruntergeholt und als maßgeblich Mitschuldiger am zweifachen Untergang Deutschlands überführt. Fazit: ein großartig gelungenes und längst überfälliges Standardwerk, das die deutsche Geschichtsschreibung in manchen Aspekten zum Überdenken zwingen wird.

 

# Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler; 1117 Seiten, div. Abb.; Siedler Verlag, München; € 49,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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