DON DE LILLO: „FALLING MAN"

Falling Man" nennt sich ein obskurer Performance-Künstler, der an Seilen hängend jenes erschütternde Bild nachstellt, das einen Mann im Anzug am 11. September 2001 beim Sturz aus den brennenden Türmen des World Trade Centers in New York zeigt. Und „Falling Man" heißt auch der Roman, den mit Don de Lillo einer der größten US-Romanciers zu jenem Tag geschrieben hat, nach dem nicht mehr war wie zuvor.

Der Totgeweihte ist die perfekte Metapher für das Unfassbare des Geschehens und die ganz persönliche Fassungslosigkeit des Anwalts Keith, eröffnet den recht kurzen Roman, wenn der Enddreißiger aus dem Nordturm taumelt, Glassplitter im Gesicht, fremdes Blut auf dem Hemd und mit dem Aktenkoffer einer unbekannten Kollegin. Aus Staub und Chaos heraus verschlägt es den Orientierungslosen unbewusst zur Wohnung von Ehefrau Lianne, von der er sich vor geraumer Zeit trennte. Wie ein verstörtes Kind führt sie ihn ins Krankenhaus und danach sind sie vorübergehend wieder ein Paar. Zur Freude von Sohn Justin, der mit dem Fernglas nach den nächsten Terrorflugzeugen von „Bill Lawton" Ausschau hält.

Doch während Lianne derweil geradezu manisch alles liest, was über die Toten vom 11. September geschrieben wird, und andererseits einer Gruppe von Alzheimer-Patienten dabei hilft, gegen ihr ganz persönliches Vergessen anzuschreiben, entwickelt Keith autistische Züge. Doch auch er öffnet sich der Erinnerung, denn als er der Besitzerin des Aktenkoffers denselben zurückbringt, beginnt er mit dieser Florence eine heimliche Affäre. Entscheidend ist allerdings nicht der Sex – mit ihr, die ihre eigene Flucht und Rettung aus dem Inferno immer wieder aufs Neue erzählen muss, kann er das Unbegreifliche selbst durchleben. Mögen auch beide dem Tod entronnen sein, wie sollen sie nun wieder ins Leben finden, denn „nach den Flugzeugen" ist nichts mehr normal, alles verändert.

Der wie stets brillant formulierende Autor komprimiert das amerikanische Trauma auf die Psychologie weniger Personen und wie sie unwiderruflich aus der Bahn geworfen sind. Wenn dazu auch der Attentäter Hammad gehört und einige Kritiker dieses Hineintasten in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Terroristen für wenig überzeugend halten, weil es so fremd oder gar geisterhaft erscheint („In den kommenden Sekunden steht nichts zwischen dir und dem ewigen Leben."), sollten sie bedenken, dass genau dies ganz dem geisterhaften Tunnelblick der verbohrten Weltverbesserer entspricht. Dies wird spätestens in dem grandiosen Finale deutlich, wenn Täter und Opfer wahrhaft aufeinanderprallen, tatsächlich wie literarisch. Das ist dann ebenso atemberaubend wie beklemmend und übertrifft noch die Wirkung der tausendfach gezeigten Fernsehsequenzen.

Niemand kann nach so etwas in das normal Gewesene zurückkehren und Don de Lillo macht es mit diesem meisterhaften Roman zum komplexen Thema begreifbar, ohne die Ereignisse interpretieren zu wollen. Die Welt wurde erschüttert – er findet die oft karge, verstörende Form für die große Benommenheit, die dem Ereignis folgte.

 

# Don de Lillo: Falling Man (aus dem Amerikanischen von Frank Heibert); 266 Seiten; Kiepenheuer & Witsch, Köln; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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