JOE BOYD: „WHITE BICYCLES"

Sein erster richtiger Job war 1964, eine Blues-Revue mit Muddy Waters und anderen Größen nach England zu bringen. Da war der in Boston geborene Harvard-Student Joe Boyd gerade 21. Im folgenden Jahr war er der Stagemanager, als Bob Dylan beim englischen Newport-Festival die Verstärker einstöpselte und damit die Folk-Ära beendete. 1966 holte er eine Undergroundband namens Pink Floyd für eine Benefizaktion nach London und verhalf ihr zu Auftritten in dem von ihm geleiteten UFO-Club und zum ersten Plattenvertrag.

Dies alles und noch viel mehr erzählt der Mann, der von Beginn an lieber Fäden ziehen als auf der Bühne stehen wollte, in seinen Memoiren „White Bicycles". Faszinierende Einblicke gibt es da in die Mechanismen der Musikrevolution, die von England aus die Welt eroberte und Mitte der 60er Jahre ihre stärkste Phase hatte. Mit dem UFO-Club war Boyd einer der wichtigsten Förderer neuer Stile und insbesondere der Psychedelic-Welle, zumal er zeitweise als Talentscout für das innovative Elektra-Label arbeitete.

Mit Incredible String Band, Fairport Convention und anderen Bands installierte er den Folkrock, um jedoch nicht viel später in den USA auch mit Jazz-Gruppen wie Miles Davis und Duke Ellington zusammenzuarbeiten. Boyd griff mehrmals daneben, wenn es galt, künftige Hitparadenstürmer zu verpflichten, doch bei der Aufnahme wegweisender Alben gehörte er wiederholt zu den wichtigen Namen in den Cover-Notes. Und er genoss die Zeit in England, wohin es ihn gezogen hatte, weil ihm die hiesige Musikszene ungleich freier und offener vorkam als die erstarrte in den USA.

Und dann war Joe Boyd einfach zur richtigen Zeit im richtigen Alter am richtigen Ort. Was diese Memoiren aber so hinreißend für jeden Liebhaber der Pop- und Rockmusik macht, ist die Fülle von Informationen mitten aus dem Geschehen. Offen und oft auch recht süffisant schildert er auch die Winkelzüge etlicher Drahtzieher der Szene, aber ebenso den Drogenkonsum und so manche Exzesse. Wobei er den vielfach zu spürenden Qualitätsverlust zahlreicher Musiker und ganzer Bands in den 70er Jahren interessanterweise auf ein Drogenphänomen zurückführt: die zunehmende Vorliebe für Kokain, das im Gegensatz zu anderen bewusstseinserweiternden Stoffen im kreativen Bereich offenbar eher kontrapunktiv wirkt.

Fazit: ein überaus lebendiges Bild der großen Aufbruchjahre der Popmusik von einem, der mittendrin an legendären Entwicklungen mitwirkte.

 

# Joe Boyd: White Bicycles (aus dem Englischen von Wolfgang Müller); 349 Seiten, div. Abb.; Antje Kunstmann Verlag, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: NF 197 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de