THOMAS MULLEN: „DIE STADT AM ENDE DER WELT"

Selten erfüllt ein Roman mit solch anspruchsvollen Themen die heraufbeschworenen Qualitäten in Inhalt und Stil so souverän wie Thomas Mullens Debüt „Die Stadt am Ende der Welt". Die packende Geschichte spielt im Spätherbst 1918, als in Europa der Weltkrieg in den letzten Zuckungen lag und zugleich die Spanische Grippe einen Todeszug um die Welt vollführte, dem mehr Millionen Menschen zum Opfer fielen als dem Gemetzel auf den Schlachtfeldern.

Der junge US-Autor aber entführt den Leser in das abgelegene Städtchen Commonwealth im nordwestlichen US-Bundesstaat Washington. 1916 als Modellstadt im Sinne einer nahezu sozialistischen Gesellschaft gegründet, hatte sich der Ort mit seiner Holzindustrie prächtig entwickelt, als die Meldungen der verheerenden Grippe-Epidemie für große Unruhe sorgten. Die Bürger beschlossen in beispielhafter Fürsorglichkeit, ihre Stadt unter Quarantäne zu stellen und die einzige Zufahrtstraße strikt für Jedermann zu sperren – niemand sollte die Chance bekommen, den Grippevirus einzuschleppen.

Ausgerechnet als der sensible Philip Worthy, Sohn des Stadtgründers, und sein Kumpel Graham Wache schieben, nähert sich ein erschöpfter Soldat der Stadtgrenze und bittet um Hilfe. Hungrig, unterkühlt und übermüdet bettelt er vergebens um Durchlass. Als er sich dennoch nicht aufhalten lassen will, erschießt Graham den armen Kerl. Und setzt damit ungeahnte Ereignisse in Gang, zumal der Virus trotz des unschuldigen Toten nach Commonwealth eindringt und in grausamer Unberechenbarkeit unter den Bürgern wütet.

Ein Klima der Furcht, der wilden Gerüchte und des grassierenden Misstrauens wird schließlich konfrontiert mit hysterischem Patriotismus, der mit hasserfüllter Gewalt über die Stadt hereinbricht, als nun Schergen der APL aus dem benachbarten Timber Falls, angeführt von ihrem selbstgerechten Sheriff Bartrum, eindringen und mit brachialem Vorgehen angebliche Dienstverweigerer verhaften. In der Nachbarstadt herrscht die gewohnte Klassenaufteilung von Bossen und schlecht bezahlten Arbeitern und deren Neid schürt den regierungsseitig verordneten Patriotismus zusätzlich – diese American Protective League ist authentisch und sie schürte wirklich auch das Denunziantentum.

Bis zum hochdramatischen Finale fesselt dieser Roman nicht nur durch die exzellente Dramaturgie und die hervorragend gezeichneten Charaktere, es sind auch diese universalen moralischen Konflikte, die dem Ganzen seine Tiefe und Unvergesslichkeit geben. Die Bürger dieser utopischen Stadt wollen das Beste und scheitern an der Frage, ob man Unschuldige töten darf, um andere Unschuldige vor möglichen Gefahren zu schützen. Zugleich wird auf erschreckende Weise deutlich, wie Superpatrioten in ihrem wahnhaften Drängen nach absoluter Sicherheit die Freiheit und die Rechte des Einzelnen niederzuwalzen bereit sind, wenn man sie nur entsprechend aufhetzt. Gleichgültig, ob in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs oder zum Beispiel im Rahmen der Ereignisse nach dem 11. September 2001...

Fazit: ein meisterhafter, bewegender Roman und ein wichtiges Buch obendrein.

 

# Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt (aus dem Amerikanischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß); 480 Seiten; Hoffmann und Campe, Hamburg; € 21

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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