RUSSELL BANKS: "DER WEIßE SCHATTEN"

Es beginnt wie der Roman über eine 60-jährige Geflügelfarmerin aus dem Nordosten der USA, die sich nach einem Traum an frühere Zeiten erinnert, die so ganz anders waren als ihre Gegenwart. Wie anders, das eröffnet sich jedoch schon nach wenigen Seiten, wenn diese Hanna Musgrove nicht nur an Afrika denkt, sondern umgehend dorthin fliegt und sich auf verwegene Weise in das vom Bürgerkrieg zerrissene Liberia schmuggeln lässt.

Damit beginnt "Der weiße Schatten", der neue gewaltige Roman von Russell Banks und er lässt den Leser bis zur letzten Zeile nicht mehr los. Hanna stammt aus einem Bostoner Arzthaus mit besten Aussichten für sich, doch schon in den frühen Studententagen in den 6oer Jahren bringt sie ihr störrisches Aufbegehren gegen den distanzierten Vater und die kalte Mutter ins Abseits. Sie begnügt sich nicht mit sexueller Libertinage und umstürzlerischen Sprüchen, sie driftet ab in den damals berüchtigten Weather Underground mit konkreten terroristischen Tendenzen.

Als ihr Name sogar auf der Fahndungsliste des FBI auftaucht, geht ihre Flucht geradezu konsequenterweise in die Dritte Welt nach Afrika und hier landet sie in Liberia, einst von freigelassenen Sklaven gegründet und als Vasallenstaat von den USA gehätschelt. So völlig heimatlos, nimmt sie den Heiratsantrag von Woodrow Sundiate gern an, der den sozialrevolutionären Flüchtling mit kaum 30 Jahren zur Frau des stellvertretenden Gesundheitsministers von Präsident Tolbert macht. Der mächtige Primitivling nimmt ebenso an der bizarren Feier teil wie sein späterer Erzfeind und Nachfolger Charles Taylor.

Mit Liebe hat das nichts zu tun, für Hanna ist es eine ebenso schützende wie privilegierte neue Identität und ohnehin bezeichnet sich die Ich-Erzählerin in ihrer bis zum Sarkasmus nüchternen Schilderung selbst als gefühlskalt. Auch ihren drei bald geborenen Söhnen gegenüber kommt kaum etwas wie Mutterliebe auf, die empfindet sie eher zu ihren "Träumern", den traurigen Schimpansen in der von ihr betreuten Affenstation. Der Zynismus ihrer persönlichen Lebenssituation wird jedoch bei weitem übertroffen von der liberianischen Wirklichkeit der 80er Jahre, als der ungebremste Horror sich auf unfassbare Weise bahn bricht.

1984 muss sie auf Befehl des Präsidenten allein in die USA zurück – der US-Botschafter hat seine Finger stets mit im Intrigenspiel um Liberia und um die ehemalige US-Staatsfeindin. Einmal mehr lässt sie ein ganzes Leben hinter sich zurück. Als sie später erneut nach Liberia kommt, erlebt sie nicht nur die Ermordung ihres Mannes mit sondern auch, wie ihre halbwüchsigen Söhne zu berüchtigten Kindersoldaten werden. Der Kontrast der verschiedenen Welten ist faszinierend dargestellt, denn der Glanz der einen beleuchtet die Düsternis der anderen um so härter.

Aus dieser kühlen weiblichen Sicht erzählt, erscheint "Der weiße Schatten" als der Roman einer riesigen Desillusion, der seine Größe aus der virtuos gelungenen Verknüpfung der realen historischen Ereignisse mit der Chronik Hannas bezieht. Man fiebert mit ihr mit, obwohl sie in ihrer kontaktscheuen, uneinsichtigen und verschlossenen Art keine Sympathieträgerin im klassischen Sinne ist. Sie bleibt dennoch in dieser grimmig sachlichen Rückschau gerade als Kind ihrer Generation verstehbar. Hinzu kommt, dass dieser fesselnde kraftvolle Roman von seiner Glaubwürdigkeit lebt, die ihn zu einem tiefgehenden gewagten Meisterwerk macht.

 

# Russell Banks: Der weiße Schatten (aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz); 511 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 23,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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