JEFFREY MOORE: "DIE GEDÄCHTNISKÜNSTLER"

Welch ein tragischer Gegensatz: Noel Burun lebt seit Kindertagen mit der Gabe der Synästhesie, bei der sich alles Gehörte und Gelesene im Hirn in farbige Formen verwandelt mit der Folge eines ewigen, detailgenauen Gedächtnisses. Doch während ein solches Extremgedächtnis auch zum Fluch werden kann, weil man wirklich nichts wieder vergisst, ist bei Noels Mutter Stella, eben 56 Jahre alt, das Gegenteil offenbar unaufhaltbar, denn die Alzheimer-Krankheit lässt sie zunehmend zu einer geistlosen Puppe werden.

Hoffnung setzt Noel auf den brillanten Neurologen Dr. Vorta, bei dem er wie seine Mutter Patient ist, wenngleich aus gegensätzlichen Gründen. Eine Chance konnte jene bahnbrechende Formel sein, die Noels Vater, Vortas früherer Kollege, einst ersann aber frustriert aufgab, bevor er starb. Exzellenter Gegenpart zu Noel ist dabei dessen bester Freund Norval, äußerlich fast wie ein Zwillingsbruder, jedoch mit der gefühllos zynischen Attitüde eines Lord Byron. Dieser kalte Frauenverächter beschäftigt sich gerade mit seinem Projekt "Mein Alpha-Bett", bei dem er zielgerichtete in 26 Wochen mit 26 Frauen schlafen will, wobei das Alphabet der Namen eine Kondition ist. Bei der aktuellen Zielperson Samira hat er allerdings keinen Erfolg, dafür verliebt Noel sich in sie. Zum Reigen der Hauptpersonen zählt schließlich noch Noels Jugendfreund JJ, ein fröhlicher Kindskopf.

So scheinbar statisch sich die Personenaufzählung für Jeffrey Moores Roman "Die Gedächtniskünstler" anhören mag, genau das Gegenteil ist richtig und der Leser muss sich gerade zu Anfang einer echten Herausforderung stellen. Das aber lohnt sich bei diesem Verwirrspiel der Ebenen, Personen und überraschenden Verknüpfungen. Moore wurde für dieses intellektuelle Melodram, das Intelligenz verlangt und zugleich die Emotionen bedient, in seiner kanadischen Heimat zum Autor des Jahres 2005 gekürt, denn ihm ist ein prachtvoll schillerndes Meisterwerk gelungen.

Genial spielt er mit den Gegensätzen und Anziehungspunkten, wo sich gleich der ganze Erzählstil ändert, je nachdem, wer soeben im Mittelpunkt steht. Erschütternde Fragmente sind zudem die eingestreuten Ausschnitte aus Stellas Tagebuch, wo selbst einfache Vorgänge nur noch bruchstückhafte Sätze ergeben. Immer wieder faszinierend sind außerdem die vielen dramaturgischen Tricks, die stets ins Schwarze treffen, so unvorhersehbar sie auch auftauchen mögen. Diese Trickkiste gipfelt in der finalen Erkenntnis, dass dieses eigentlich kein Roman ist und auch nicht von Jeffrey Moore geschrieben wurde sondern von einem ebenso skrupellosen wie verblendeten Wissenschaftler. Oder?

Fazit: fast alles ist hier möglich, alles ist komplex verknüpft und dennoch schlüssig. Die Charaktere sind hervorragend gezeichnet und gewinnen zusätzlich Farbe, wenn sie auch selbst zu Wort kommen. Also rundherum ein hochklassiges Lesevergnügen, das Klaus Modick kongenial übersetzt hat.

 

# Jeffrey Moore: Die Gedächtniskünstler (aus dem Englischen von Klaus Modick); 385 Seiten; Eichborn Verlag, Frankfurt; € 22,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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