TIM BINDING: "HENRY SEEFAHRER"

Tragik, Humor und Pathos bestimmen Tim Bindings neuen Roman "Henry Seefahrer", dessen Titelfigur ein vom Schicksal heftig gebeuteltes Leben führt. Als Kind verliert Henry seine Mutter im Sinne des Wortes, denn im dichten Londoner Nebel verschwindet sie kurz, um eine vergessene Geldbörse aus einem Lokal zu holen. Henry aber bewegt sich suchend vom Ort und hat obendrein sein Adressbüchlein verloren.

Sie finden einander auch später nicht, zumal der Tagelöhner Joe ihn mitnimmt und für sich arbeiten lässt. Über weitere Stationen kommt der Junge ins Waisenhaus, wo er erstmals auf seinen künftigen Leidensgefährten Richard trifft. Sein Familienersatz aber wird schließlich die Armee, in die er als Mitglied des Militärorchesters aufgenommen wird. Eine andere Ebene des Geschehens zeigt parallel die Anglefield Road in einem anonymen einfachen Vorort, in der Henrys gebrochene Eltern leben. Diese Gegend erscheint nun quasi als eine Art Mikrokosmos der britischen Gesellschaft in der Hauptzeit des Romans am Anfang der 80er Jahre.

In den Mittelpunkt rückt zusehends der Falklandkrieg von 1982 und hier der Truppentransporter "Canberra", Teil eines riesigen Konvois der britischen Flotte auf dem Weg zur Rückeroberung der Inseln. Henry Seefahrer ist auf dem Schiff und wer den komplizierten Personenentwicklungen und raffiniert verflochtenen Handlungsstränge bis dahin gefolgt ist, unterliegt spätestens hier dem faszinierenden Sog der starken Charaktere und ihrer schwierigen Beziehungen zueinander. Und erneut spielt das Leben Henry übel mit, denn der Bordmusiker hat zwar die Truppen zu unterhalten, im Gefechtseinsatz jedoch muss er als Sanitäter aushelfen.

An Henrys Beispiel, wie er in diesem Irrsinnsgemetzel um ein paar abgelegene Schafsinseln zum Berserker wird und noch mehr Narben auf der Seele bekommt, eröffnet sich das Grauen des Krieges auf eine besonders beklemmende Weise, ebenso fremd wie unentrinnbar persönlich. Man versteht, warum Henry verstummt in dem Versprechen, nie wieder menschliche Laute von sich zu geben. Und so schließt sich der Kreis, wenn der stumme Straßenmusiker Henry und der erblindete Anzeigenverkäufer Richard einander auf Londons Straßen begegnen.

Beeindruckend sind jedoch auch die vielen anderen Protagonisten, deren Lebenswege einander irgendwann kreuzen. Das Spektrum der Emotionen umfasst alles von Liebe und Hass über Angst, Gier und Mut bis zu Sehnsucht und immer wieder die Einsamkeit des Einzelnen. Tim Binding zeichnet stimmige Figuren und beobachtet äußerst detailgenau, am bewegendsten jedoch bleibt bis zuletzt die Odyssee des zutiefst menschlichen Henry, der erst ganz spät seinen Frieden findet.

 

# Tim Binding: Henry Seefahrer (aus dem Englischen von Rudolf Hermann); 608 Seiten; marebuchverlag, Hamburg; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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