KAZUO ISHIGURO: "ALLES, WAS WIR GEBEN MUSSTEN"

Hailsham, ein Internat in England Mitte der 90er Jahre, als es die Sensation um das Klonschaf Dolly gab: Die Lehrer hier werden Aufseher genannt und sie lassen die Schüler schon früh spüren, dass sie für eine besondere Zukunft ausersehen sind. Die 31-jährige Kathy erzählt in argloser Naivität von ihrer Zeit dort und dabei vor allem von Ruth und Tommy, den Freunden durch Kindheit und Pubertät.

Seit elf Jahren ist Kathy mittlerweile 'Betreuerin', das Besondere an Hailsham, den dortigen Schülern und ihrer Bestimmung aber erfährt man erst sehr langsam und nur in nervenaufreibend geringen Dosierungen. Doch die große Geduld, die man für die Entwicklung dieses jüngsten Romans von Kazuo Ishiguro unter dem Titel "Alles, was wir geben mussten" aufbringt, wird mit einer ebenso grandiosen wie tief beklemmenden Geschichte belohnt.

Was wie eine fast banale Internatserzählung daherkommt, eröffnet Stückchen für Stückchen das Schicksal dieser Kinder, die allesamt aufwachsen, um als junge Erwachsene von höchstens 25 bis 30 Jahren lebenswichtige Organe zu spenden: "Dafür wurdet ihr geschaffen." Sie erfahren früh ihre Bestimmung, ohne deren Bedeutung und dessen Abweichung vom Normalen wirklich begreifen zu können. Und sie werden so eingehend von den Pädagogen auf ihre fatalistische Pflichterfüllung konditioniert, dass niemand von ihnen je dagegen aufbegehrt oder das langjährige Prozedere auch nur in Frage stellt. Ihre Zukunft bedeutet, aufgezogen und eines Tages ausgeweidet zu werden, wohl wissend, dass spätestens nach der vierten Spende ihre Zweckbestimmung "abgeschlossen" sein wird.

Was die Schüler zeitweise wirklich umtreibt, ist jene Aufforderung zur Kreativität und Tommy entwickelt seine sehr logische Theorie, warum Aufseherin Miss Emily und die mysteriöse Madame Marie-Claude ihre Kunstwerke sammeln. Doch selbst dieses Geheimnis erweist sich später auf zynische Weise als falsch, wogegen die Gefühlsbeziehungen der drei Freunde von bewegender Normalität sind in einem Leben, das ansonsten von Beginn an anormal verläuft. Es ist Ishiguros genialer Kniff, das Alles von der sympathischen Kathy, also aus der Sicht eines der Klone, berichten zu lassen. Statt kühl rechnender Biotechniker, spannungsheischender Ausbruchsaktionen oder hehrer moralischer Anklagen ziehen scheinbar harmlose, zuweilen im Plauderton geschilderte Szenen in einen unentrinnbaren Bann.

Wenn dieser Roman um Fortschritt und Ethik schließlich ins Finale geht, so breitet sich das eigentliche Drama tief drinnen aus und längst hat den Leser ein schleichendes Grauen und Frösteln erfasst, obgleich es ähnlich undramatisch endet wie eine würgende Ahnung von etwas Unausweichlichem, die sich nun vollends bestätigt. Ist dieses so leise und langsame und zugleich so ungeheuer intensive Meisterwerk des in England lebenden Japaners nur Science Fiction? Wie groß darf unsere Hoffnung darauf sein....

 

# Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (aus dem Englischen von Barbara Schaden); 349 Seiten; Karl Blessing Verlag, München; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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