CATHERINE TEXIER: "VICTORINE"

Bittersüß, dieses Wort fällt einem als erstes ein zu Catherine Texiers jüngstem Roman "Victorine", denn die Geschichte der Protagonistin ist von seltsamer Schizophrenie und gleichermaßen romantisch wie herb. Als Inspiration diente der US-Autorin die eigene Urgroßmutter, die einst für über ein Jahr einfach verschwand. Ein Familiengeheimnis, über das die Verwandtschaft ungern spricht.

Sie muss eine starke junge Frau gewesen sein, diese Victorine, die im späten 19. Jahrhundert schon mit 16 Jahren Lehrerin in Frankreich wurde. Obwohl sie schon da Antoine, ihrer großen Liebe, begegnet, heiratet sie den ebenso braven wie gefühlsarmen Kollegen Armand und versinkt samt der bald geborenen zwei Kinder in einem unscheinbaren Leben in der Provinz, so unscheinbar, dass es diese zu starken Gefühlen neigende Frau tief deprimiert. Bis Antoine, der Zollbeamte, nach Jahren erneut auftaucht.

Es ist etwas Ungeheuerliches in diesen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, als Victorine quasi über Nacht mit ihrem Liebsten verschwindet. Aus der wohlanständigen Bürgerlichkeit geht die Flucht "in eine verzauberte Welt" in Saigon in Französisch-Indochina. Dort erlebt sie Lust und Leidenschaft und sie erfüllt sich ihre Sehnsucht nach einem wenn auch nur vorübergehend erfüllten Leben. Trotz aller Schuldgefühle bleibt sie ein ganzes Jahr verschwunden, ohne Abschied, ohne jede Nachricht. Für ihre Zeit jedenfalls beweist diese Ausbrecherin einen ungewöhnlichen Mut zu einem selbst bestimmten Leben.