FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS: "MEIN JAHR ALS MÖRDER"

"Es war an einem Nikolausabend, in der Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden." So beginnt Friedrich Christian Delius sein jüngstes Buch. Man schreibt das Jahr 1968 und der Ich-Erzähler zählt zu jenen rebellischen Studenten in West-Berlin, die sich gegen den sprichwörtlich gewordenen Muff unter den Talaren und nicht nur dort auflehnen.

"Mein Jahr als Mörder" heißt das Werk und es hat viel Autobiographisches, zumal das, was diesen nie ausgeführten Mordauftrag auslöst, zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört. Der idealistisch gesinnte Student erfuhr an dem bewussten Dezembertag, dass Hans-Joachim Rehse vom Vorwurf des Mordes freigesprochen worden war. Dieser einst willige Helfer an der Seite von Blutrichter Freisler am Volksgerichtshof hatte so manches der hunderte von Todesurteilen gegen NS-Gegner mit unterstützt.

Darunter auch das gegen den Vater eines Freundes eben dieses Studenten, der nun spontan beschließt, ein Zeichen zu setzen, indem er den Nazi-Richter selbst richtet. Rehse hatte wie so viele seinesgleichen das braune Mäntelchen nach dem Krieg abgelegt und bis in die 60er Jahre unbehelligt Karriere machen können, während die NS-Widerstandskämpfer den meisten Bürgern noch immer als Verräter galten. Was der Student nun von seinem Freund über die Hinrichtung des Vaters und damit über das Schicksal von Georg Groscurth erfährt, empört ihn zutiefst.

Groscurth war Leibarzt von Hitler-Stellevertreter Rudolf Hess und zugleich heimlich Mitbegründer der "Europäischen Union", einer Gruppe von Menschenfreunden und Antifaschisten, die Juden retteten. Doch mit seinem Ende ist das Unrecht noch längst nicht vorbei, denn einziger Übelebender der EU ist der Wissenschaftler Robert Havemann, der dann in der DDR ins politische Abseits gedrängt wurde. Weil nun aber Groscurths Witwe, die Ärztin Anneliese Groscurth, Kontakt zu Havemann unterhält und auch Aufrufe gegen Widerbewaffnung und Faschismus unterschreibt, verliert sie als angebliche Unterstützerin Moskaus im Kalten Krieg Stellung, Ruf und selbst den Status als NS-Opfer.

Es sind düstere Lebenslügen in dieser "Steinzeit der Demokratie", wie Delius jene Ära des Mundhaltens und Anpassens nennt. Und das eigentlich Empörende an dieser exzellent recherchierten Geschichte mit dem realen Hintergrund ist der Justizskandal, den dieselbe westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die Rudi Dutschke und die aufbegehrenden Studenten aufs Heftigste anfeindete, gleichmütig hinnahm. Dass der Ich-Erzähler dann doch nicht zum Mörder werden muss, verdankt er schließlich dem Umstand, dass Blutrichter Rehse 1969 überraschend eines natürlichen Todes stirbt.

Sprachästhet Delius versteht im Übrigen glänzend, historische Fakten, Fiktion und eigene biografische Facetten so miteinander zu verknüpfen, dass dieser Roman nicht nur ein äußerst wichtiges sondern auch ein spannendes Buch geworden ist.

 

# Friedrich Christian Delius: Mein Jahr als Mörder; 303 Seiten; Rowohlt Verlag, Berlin; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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