PAUL AUSTER: "NACHT DES ORAKELS"

Paul Auster schafft es mit seinem jüngsten Buch tatsächlich, sich selbst noch zu übertreffen. Er lässt den Schriftsteller Sidney Orr eine Geschichte erzählen, in der wiederum eine Geschichte erzählt wird, in der ein Roman eine Rolle spielt, der "Nacht des Orakels" heißt. Und das ist auch der Titel dieses Buches, das den Leser sofort und bis zur letzten Zeile in einen unentrinnbaren Sog zieht.

Der 34-jährige Sidney, der sich gerade langsam von einem fast tödlichen Unfall erholt, kauft am 18. September 1982 in einem kleinen Papierladen in New York von einem seltsamen Chinesen ein blaues Notizbuch aus Portugal. Von nun an bleibt nichts mehr, wie es ist. Sein Freund John Trause (eine Anagramm Austers und natürlich ebenso alt und Schriftsteller!) rät ihm zu einer bestimmten Geschichte und in dem blauen Notizbuch scheint sie sich nahezu von selbst zu schreiben.

In ihr entgeht der Verlagslektor Bowen um Haaresbreite dem Tod durch einen herabstürzenden Wasserspeicher und sieht das als Zeichen, auf der Stelle sein Leben zu ändern. Umgehend verlässt er Frau und Beruf zu dem Zufallsziel Kansas City, im Gepäck das verheißungsvolle Manuskript des Romans "Nacht des Orakels", das ihm zugespielt wurde. Bowen gerät jedoch in eine schicksalhafte Falle aus dummen Zufällen, allerdings erfährt man nicht, ob er sich daraus retten kann. Stattdessen wird Sidneys innig geliebte Frau zunehmend rätselhaft, während er durch die Magie des blauen Notizbuches innerhalb weniger Tage in Bedrängnis kommt.

Es ist fast unmöglich, die in einzigartiger Dramaturgie ineinander verwobenen Geschichten an einem roten Faden zu erklären, gerade das aber ist das Geniale an diesem Buch, in dem man keine Zeile missen möchte. Da entwickeln selbst kleine Abschweifungen ein Eigenleben. Zugleich schaut man dem grandiosen Erzähler quasi über die Schulter beim Schaffensprozess des Schreibens und kann nur staunen, wenn er einmal mehr auch wieder das beliebte Fußnotenspiel betreibt, in dem er gewissermaßen ein Zwiegespräch mit dem Leser führt, zuweilen aber auch ganze 'Nebenher-Romane' entstehen lässt.

Mehr als je zuvor arbeitet Auster mit der Vermischung von Realität und Illusion. Nichts ist hier vorhersehbar und er treibt ein absolut virtuoses Spiel mit vermeintlichen Zufällen. Doch nur ein wahrer Meister wie er kann damit derartig glaubwürdig und spannend jonglieren, dass der Zauber bis zum eigenartigen aber schlüssigen Finale zur bleibenden Faszination eines Buches wird, das man wohl nie mehr vergessen wird. Ein Lob gebührt im Übrigen der glänzenden Übersetzung, die Austers Sprachmagie angemessen ins Deutsche bringt.

 

# Paul Auster: Nacht des Orakels (aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz); 286 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 19,90 WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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