INGRID NOLL: "RABENBRÜDER"

Man kann nicht anders bei diesem neuen Roman von Ingrid Noll, man muss die sprichwörtlichen Raben bemühen: da ist die noch immer schöne 59-jährige Rabenmutter Helen Wilhelms mit den grundverschiedenen Rabensöhnen Paul und Achim in einer Familiengeschichte, die fast beiläufig zum Krimi wird, der aber wiederum so subtil rabenschwarz geraten ist wie nie. Und dessen Titel heißt dann auch folgerichtig: "Rabenbrüder".

Der versponnene 39-jährige Paul, als Rechtsanwalt und Ehemann glücklos, und sein vier Jahre jüngerer Bruder Achim, charmant, attraktiv und scheinbar erfolgreich als Kaufmann, sind Rivalen um die Gunst der innig verehrten Mutter. Jeder für sich glaubt allerdings, nur der andere werde von der stolzen, undurchschaubaren Frau geliebt. Diese unterschwellige Eifersucht, genährt aus manchen Kindheitserlebnissen, wird nicht mal übertroffen von der Abneigung gegen den hypochondrischen und viel älteren Vater.

Zu den übelsten Lügengeschichten, zu denen Achim zuweilen greift, gehört jener Giftpfeil, den er einst Paul in das von unerfüllter Liebe ohnehin wehe Herz schoss: er habe vor Jahren ein einziges Mal Inzest mit der Mutter getrieben. Als der Vater nun mit einem Schlaganfall im Krankenhaus liegt und einmal mehr hemmungslos beide Brüder mit Worten der Abscheu niedermacht, schleudert ihm Achim eine ähnliche und für den Alten tödlich wirkende Lüge hin über einen Liebhaber der Mutter, den er selbst gesehen habe. Paul ist zwar entsetzt, hat aber ganz andere Sorgen mit Finanz-, Ehe- und Midlife-Krise. Obendrein steckt er in einer wenig erhebenden Liaison mit einer ehemaligen Freundin seiner Frau und die kommt ihm allmählich auf die Schliche. Zu allem Unglück verursacht er auch noch einen Unfall, bei dem seine Annette erheblich verletzt wird.

Aus gutem Grund war man sich seit längerem aus dem Weg gegangen in der Familie, doch die Beerdigung führt sie wieder zusammen und das ansehnliche Erbe wird ebenfalls ein Thema. Jeder hat vor jedem seine Geheimnisse, Lügen sind ander Tagesordnung und tatsächlich gibt es dann nicht nur den einen Toten in der Familie. "Blut ist dicker als Wasser", diese Binsenweisheit betont Achim wiederholt, doch ob das immer stimmt....

Da entwickeln sich kleine alltägliche Abgründe zu dunklen Klüften und die Autorin steuert unerbittlich und mit unauffällig virtuoser Dramaturgie auf ein starkes Finale mit Ansätzen des Makabren zu. Ein Krimi? Ja, auch, vor allem aber ein bis zur letzten Zeile fesselndes Familiendrama, das mit hinterhältigem Humor und manch charmanter Bosheit erzählt wird. Ein Meisterwerk, das unbedingt auch verfilmt gehört!

 

# Ingrid Noll: Rabenbrüder; 280 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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