SIBYLLE LEWITSCHAROFF: "MONTGOMERY"

Montgomery Cassini-Stahl – kann ein Junge aus Stuttgart-Degerloch so heißen, noch dazu 1949 geboren? Da muss jemand zum Außenseiter und Eigenbrötler werden, selbst wenn er Spross einer Großbürgerfamilie ist. Wenn dann auch noch die Mutter eine ebenso humorlos pietistische wie protestantisch korrekte Schwäbin ist und der schon in den Kindertagen entfleuchte Vater ein katholisch-lebenslustiger Italiener, dann kann das beinah zwangsläufig nur einen geradezu schizophrenen Charakter hervorbringen.

Dieser "Montgomery" – und das in Rommels Heimatstadt, wenngleich in Wahrheit nach dem Schauspieler Montgomery Clift benannt – ist auch der fesselnde Protagonist in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman: die letzten acht Tage im Leben des erfolgreichen Filmproduzenten in Rom erzählt sie, eingefasst in eine eingangs merkwürdig wirkende Rahmenhandlung, in der ein alter Schulkamerad Montys "zum Ordnungshüter seines Lebens" wird.

Montgomery ist ein Getriebener, der gerade an seinem größten Projekt, einem Großfilm über das Leben des "Joseph Süß Oppenheimer" arbeitet, um dieses in der Nazi-Propaganda übel geschmähte Finanzgenie des 18. Jahrhunderts am württembergischen Hof zu Stuttgart zu ehren. Er ist ein Grandseigneur mit Reinlichkeitswahn, der auf penibelste Ordnung hält und jeden Morgen mit der kaltherzigen Mutter telefoniert. Ein leeres Ritual, denn "in der Kunst der dienlichen Ignoranz hatte er es zum Meister gebracht."

Was ihn jedoch unerlässlich quält, seinen Schlaf zermürbt und ihn mit Träumen martet, sind die Chimären der lieblosen Kindheit. Sein älterer Bruder prägte den starr regulierten Alltag als umhätschelter Rollstuhlfahrer. "Robert fraß die Energie der gesamten Familie". Und es ist ein beklemmendes Kain-und-Abel-Drama, das ihn diesen Bruder am Tag vor dem neunten Geburtstag in den heimischen Swimmingpool schieben lässt. Die Kains-Tat bleibt sein Geheimnis, ungesühnt und ebenso unvergesslich. Nun um seinen 50. Geburtstag scheinen sich sämtliche Lebensstränge dramatisch zuzuspitzen. Statt sich seinem wachsenden Wunsch nach "menschenfreien Tagen" erfüllen zu können, muss er sogar den versoffenen Star seines Films kurzfristig persönlich ersetzen. Obendrein verliebt er sich auch noch unsterblich in eine schöne junge Holländerin, während doch längst die Ohnmacht gegenüber den Gespenstern der Vergangenheit sein Herz zerreißt.

Das alles gerät bis zur finalen Überraschung zu einem großartig erzählten Roman von internationalem Niveau. Fast altmodisch ist diese Geschichte geschrieben, das aber gekonnt und mit elegantem Schwung. Den endgültigen Glanz verleiht dem Werk diese souveräne Sprache, die ihre großen poetischen Momente hat, ohne je gekünstelt zu wirken. Fazit: ein großer Wurf.

 

 

# Sibylle Lewitscharoff: Montgomery; 352 Seiten; DVA, München; € 19,90 WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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