GABRIELE HOFFMANN: "ANNAS ATOLL"

Als Lilli von Eck 1914 aus Fernweh und Abenteuerlust den gut dotierten Auftrag als Gouvernante für die Familie des Verwalters einer fernen Vogelinsel annahm, konnte sie nicht ahnen, welch armseliges Eiland sie statt eines pazifischen Paradieses antreffen würde. Die 670 Seemeilen südwestlich von Acapulco gelegene Isla de la Pasion ist eine Guano-Stätte und entsprechend karg entpuppte sie sich denn auch.

Schon die Ankunft steht unter einem düsteren Stern, denn das Schiff läuft auf ein Riff, weil das Leuchtfeuer aus Geiz nicht befeuert war. Die 24-jährige Deutsche ahnt: "Dies ist ein Ort, an dem man erwartet, dass ungewöhnliche Dinge geschehen." Zunächst aber drücken nur die Armseligkeit, der ständige Vogelkotgeruch und der Stumpfsinn der meisten der anfangs rund 40 Inselbewohner aufs Gemüt. Nach trostlosen Monaten will Lilli die Insel im Juni mit dem Versorgungsschiff vorzeitig verlassen, doch die garstige Frau ihres Chefs verhindert es im letzten Augenblick.

Lilli ist gefangen auf "Annas Atoll" – so der Titel von Gabriele Hoffmanns jüngstem See-Roman – und mit ihr sind es jetzt noch 25 Erwachsene und zwölf Kinder. Die Vorräte sind auf fünf Monate bemessen, bis das nächste Versorgungsschiff kommt. Doch sie können nicht wissen, dass mittlerweile der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist und das Atoll in Vergessenheit gerät. Im November sind die Vorräte aufgebraucht und Hunger und Skorbut raffen bald etliche Mitbewohner dahin.

Ausbruchsversuche mit den unzulänglichen Booten scheitern unter hohen Verlusten im Sturm und in den haiverseuchten Gewässern. Bis schließlich nur noch vier Frauen, sieben Kinder und Leuchtturmwärter Victor übrig sind. Und es beginnt ein noch schlimmeres Märtyrium, denn Victor schwingt sich auf zum Herrscher über Leben und Tod und zwingt die Frauen, ihm zu Willen zu sein. Die Zeit der Unmenschlichkeit dauert über zwei Jahre und es fügt sich, dass die Rettung durch ein US-Kanonenboot just an dem Tag kommt, als die Frauen ihren Peiniger getötet haben. Sie können die Isla de la Pasion, die wahrhaftig zur Insel der Leiden geworden ist, verlassen. Lilli aber wird zunächst eingekerkert wegen des Mordes an Victor und möglicher Spionage für deutsche U-Boote!

Es sind ihre packenden Berichte an den US-Konsul, die diese Leidenszeit am Rande der Zivilisation schildern. Ohne Wehleidigkeit und zuweilen mit einem Hauch Sarkasmus beschreibt die Ich-Erzählerin eine Geschichte von Schicksal und Überlebenswillen, die vor allem auch deshalb bewegt, weil sie auf Tatsachen beruht.

 

# Gabriele Hoffmann: Annas Atoll; 253 Seiten; Europa Verlag, Hamburg; € 17,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

 

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