KRISTINA MARJA BALDURSDOTTIR: "KÜHL GRAUT DER MORGEN"

Thorsteina ist Englischlehrerin an einer isländischen Gesamtschule und wegen ihrer Mischung aus Strenge, Arroganz und Scharfzüngigkeit gepaart mit einer attraktiven Erscheinung ebenso gefürchtet wie beliebt. Mit 45 Jahren führt sie ein sehr genau geregeltes Leben, hat einen Liebhaber in Frankreich und daheim solch dröge Hobbies wie das Sammeln von Wörterbüchern und die akribibischen Messungen der Außentemperaturen.

"Kühl graut der Morgen" hat Kristin Marja Baldursdottir ihren neuen Roman genannt und kühl ist auch Ich-Erzählerin Thorsteina, die ein allgemeines Desinteresse an ihren Mitmenschen pflegt und sich das aufgrund ihrer finanziellen Unabhängigkeit auch leisten kann. Dabei hat sie nicht nur in der Schule eine köstlich direkte und zuweilen ruppige Art, mit Leuten umzugehen. Männer haben besonders schlechte Karten bei der seit langem Geschiedenen, denn "früher oder später benötigen sie Dienstleistungen". Als Lehrerin aber ist sie offenbar sehr fähig, obwohl gerade ihre pubertierenden 15-Jährigen eine unerfreuliche Horde sind.

Wie sie damit und mit ihren Kollegen fertig wird, schildert sie mit staubtrockenem Humor und bärbeißigem Charme. Da ahnt man ein wenig, wieviel Sadomasochismus einen guten Lehrer ausmacht. Ohnehin ist sie von der Richtigkeit ihrer Ansichten sehr überzeugt: "Ich bin Lehrerin von Gottes Gnaden." Bis der 17 Jahre jüngere Mathe-Lehrer Atli ihr widerspricht und sie andererseits über diese verdächtigen Anfälle von Selbstgesprächen und Schlaflosigkeit trotz der überaus wohlgeordneten Lebenführung ins Grübeln gerät. Und bald irritieren sie obendrein die Blicke des schönen Kollegen und lassen sie sogar über die Liebe nachdenken.

Atli verwirrt sie jedoch auch mit den Berichten über Ausfälligkeiten von Schülerinnen, die ihn sogar sexuell belästigen. Schließlich kommt es zu einer prickelnden Annäherung zwischen der reifen Frau und dem jungen Kollegen, doch dann kippt das Geschehen hin zu einem tragischen Finale mit einem großen aber bitteren Auftritt Thorsteinas, der bewusst macht, dass diese beklemmenden modernen Verhältnisse an ihrer Schule wahrlich keine isländische Spezialität sind.