MARTIN DOERRY/MONIKA ZUCHT: „NIRGENDWO UND ÜBERALL ZU HAUS"

Mit dem viel beachteten Buch „Mein verwundetes Herz" setzte Martin Doerry seiner in Auschwitz ermordeten Großmutter Lilli Jahn ein literarisches Denkmal. Nun legt der stellvertretende Chefredakteur des SPIEGEL einen opulent aufgemachten Band mit Interviews vor, in denen er in Europa und Amerika lebende Juden über ihr Davonkommen vorm Holocaust befragte, aber auch über ihr heutiges Verhältnis zu Deutschland und zu ihrem ganz persönlichen Judentum.

Nirgendwo und überall zu Haus", nach dieser Selbstcharakterisierung des befragten Historikers Saul Friedländer ist das Buch benannt. Zu Wort kommen die letzten Repräsentanten des untergegangenen europäischen Judentums und Doerrys Absicht war es, diese Zeitzeugen aus eigenem Erleben berichten zu lassen, um die Leser ihrer Worte zu Mitzeugen zu machen. Es sind große Namen unter den 24 Befragten wie der des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel oder der des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertesz.

Dem Autor ist es gelungen, die Befragten zu sehr persönlichen, ja teils vertraulicheren Aussagen zu bewegen, als dies bisher möglich war. Dabei überrascht die maßvolle Haltung den Deutschen gegenüber, wenngleich eine Aussage wie die von Lucille Eichengreen eine Grundhaltung wiederzugeben scheint: „Weder Hass noch Bitterkeit. Aber ich kann nicht vergessen und nicht vergeben. Denn meine ganze Familie ist umgekommen." Hinzu kommt immer wieder ein Gefühl von Schuld und Scham, überlebt zu haben inmitten des vieltausendfachen Sterbens anderer Juden.

Als „Schwarzfahrer des Schicksals" bezeichnet sich da Georges-Arthur Goldschmidt, der den Holocaust als ins Ausland verschicktes Kind überlebte wie einige der Interviewten. Auch Andere verwiesen immer wieder auf schicksalhafte Zufälle, denen allein sie ihr Davonkommen verdanken, wenn auch häufig unter schrecklichen Bedingungen. Auffällig ist durchaus, dass ausnahmslos Juden mit hoher Bildung bzw. aus besseren Kreisen befragt wurden und 'normalere' Menschen wie Handwerker und einfache Angestellte gänzlich fehlen. Das scheint jedoch verzeihlich, denn die hier Befragten waren offenbar am ehesten willens und in der Lage, sich über das unvergessene Leid zu äußern.

Die langjährige SPIEGEL-Fotografin Monika Zucht fügte den Worten gegen das Vergessen beeindruckende Schwarzweiß-Portäts hinzu, die den altersmilden Ernst der Interviewten mit jener Würde verbinden, die die Nazis zumindet ihnen nur auf Zeit zu rauben vermochten.

 

# Martin Doerry/Monika Zucht: Nirgendwo und überall zu Haus; 264 Seiten, 60 SW-Abb., Großformat; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 39,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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