IRINA KORSCHUNOW: "DAS LUFTKIND"

Mutterlos aufgewachsene Gutsherrentochter bekommt 1924 als 17-Jährige ein Kind von einem Fremden und der hartherzige Vater schickt sie in ein Kloster, wo man ihr das Kind nach der Geburt wegnimmt. Das könnte der Stoff für eine rührselige Herz-Schmerz-Geschichte sein, wenn die Autorin nicht Irina Korschunow hieße und das alles nicht obendrein in ihrer märkischen Heimat spielte.

"Das Luftkind" heißt ihr neuer Roman, der eine zutiefst menschliche Geschichte unspektakulär und zugleich so spannend erzählt, dass man sie regelrecht verschlingt. Da berührt es unmittelbar, wenn diese Freda von Rützow nur "eine Stunde mit dem Kind, diese kurze, lebenslange Stunde" haben darf, bevor es zur anonymen Adoption fortkommt. Es wird ihr Luftkind bleiben, mit dem sie innerlich in steter Verbindung bleibt.

Doch der Schmerz des Verlustes lässt sie gegen den kalten Patriarchen aufbegehren und sie erpresst von ihm den Besuch des Lyzeums und die Möglichkeit zum Studium. Unpolitisch wie sie ist, kauft sie dann als frischgebackene Lehrerin an ihrem ersten Dienstort vom mütterlichen Erbe das Haus eines jüdischen Apothekers, der vorm Nazi-Terror fliehen will. Und sie begegnet dabei dem Rechtsanwalt Hochberg, dessen Familie sich bis hin zur Fälschung der Ariernachweise derartig von der jüdischen Herkunft entfernt und getarnt hat, dass der nichtsahnende Sohn Harro sogar als pflichteifriger Hitler-Jungen Nazi-Parolen nachplappert.

Die braune Zeit schwappt selbst in die Kleinstadtschule hinein, doch Freda in ihrer gradlinig-menschlichen Haltung gelingt es, sich fern davon zu halten. Auch kennt niemand das Geheimnis um ihr Luftkind und selbst ihre Kontakte zur Direktorin und zum kritischen Kollegen Kambacher bleiben distanziert. Bis Anfang 1942 die Katastrophe über die Hochbergs hereinbricht: ihre falschen Papiere fliegen auf und sie können nur noch eine Warnung an den inzwischen studierenden Sohn absetzen, bevor sie sich dem vorgezeichneten Untergang im KZ durch Freitod entziehen.

Auf geheimen Wegen gelangt Harro zu Freda ins Asyl. Die Wahrheit stürzt ihn innerlich in den Abgrund und Krankheiten belasten die Jahre des Gefangenseins zusätzlich. Doch eines Tages sehen die Beiden einander mit anderen Augen an, als Mann und Frau, und trotz der 16 Jahre Altersunterschied entsteht eine innige Liebesgeschichte. Zugleich wissen sie: "Allein die Niederlage wird uns retten." Als die endlich kommt, müssen Beide einen Neuanfang wagen, jeder auf seine Weise.

Eine fesselnde Geschichte, gerade weil Fredas Mut zum Widerstand nicht Heldentum enspringt sondern ihrem ganz persönlichen Schicksal und ihrer Menschlichkeit. Die guten wie die schwachen oder gar schlechten Charaktere, sie sind hier absolut glaubhaft als Durchschnittsmenschen ihrer Zeit gezeichnet und es ist dieses Unspektakuläre, das dem Roman seine Größe gibt.

# Irina Korschunow: Das Luftkind; 271 Seiten; Hoffmann und Campe, Hamburg; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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