ANTJE RAVIC STRUBEL: "FREMD GEHEN"

Mit "Offene Blende" und "Unter Schnee" gelangen der jungen Autorin Antje Ravic Strubel von der Kritik umjubelte Erstlinge. Doch würde sie das Niveau mit einem weniger autobiografisch geprägten Roman halten können? Mit ihrem neuen Buch "Fremd Gehen" erfüllt sie die hohen Erwartungen mit einem verwegenen Wurf.

Sie bezeichnet diesen gekonnt verflochtenen Krimi als ein Nachtstück. Ein nächtlicher Mord am Kanal steht denn auch am Anfang und der Mathematikstudent Daniel ist Augenzeuge vom Fenster seiner Wohnung aus. Doch was der Alte im Kapitänsmantel dort am Wasser damit zu tun hat und die Frage, was wirklich geschehen ist, das verwirrt Daniel bis zur Paranoia. Dann aber öffnet sich eine zweite Ebene des Romans, wenn eine Ich-Erzählerin und ihre Mitautorin Marlies über das Erarbeiten eben dieses Krimis und seiner Figuren in Widersprüche geraten. Marlies führt ein zügelloses Leben mit wechselnden Affären, während die Ich-Erzählerin an ihrer hoffnungslosen Sehnsucht nach einer Beziehung mit ihr leidet.

Der Alte wiederum, ein weiterer Akteur mit Eigenleben, deliriert ähnlich in quälenden Erinnerungen an Kristian und diese "Lippen wie Rosenblätter an kaltseidenen Jungs". Und er hat Daniel erkannt als jemanden, der dieser gleichwohl nicht war. Der jedoch verliert, gefangen in seinem mathematischen Denken, den Überblick bei dieser verwirrenden Gleichung mit ungewissen Unbekannten und wird "wund vor Angst". Immer mehr verwischt, was real und was nur gespiegelt ist, welche Identität wirklich zählt in diesem nächtlichen Großstadt-Blues. Zwar mitten in Berlin, jedoch abseits der glitzernden Hauptstraßen.

Antje Ravic Strubel entfaltet mit klarer, prägnanter und zugleich subtil poetischer Sprache eine dichte Athmosphäre, in die sich fast unmerklich Spannung einnistet. Sie ist eine geradezu besessene Beobachterin, die immer wieder grandiose Bilder einschiebt, frisch, neu und ebenso originell wie souverän. Und wenn dann die alte DDR zuweilen spöttisch wie eine Chimäre durch die Erzählebenen geistert, bekommt ein besonders treffender Satz seinen ganz speziellen Hintersinn: "Am Realismus gehen die schönsten Ideen kaputt."

 

# Antje Ravic Strubel: Fremd Gehen. Ein Nachtstück; 191 Seiten; marebuchverlag, Hamburg; € 18

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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