- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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CAY RADEMACHER: „NACHT DER RUINEN“
Der Epilog von Cay Rademachers jüngstem Roman „Nacht der Ruinen“ lässt kaum ahnen, welches historische Drama er bald ausbreiten wird. Die jüdischen Freunde Joseph Salomon und Jakub Blum genießen ebenso ausgelassen wie eigentlich streng verbotene Tage mit ihrer Freundin, der etwas jüngeren arischen Fabrikantentochter Hilda.
Doch es ist der Sommer 1938 und die Nazi-Herrschaft sprengt das Trio noch im selben Jahr. Und dann der Auftakt zum grimmigen Geschehen von vor genau 80 Jahren: letzter großer Bombenangriff der US-Air Force am 2. März 1945 mit 600 B-17-Bombern auf das längst in Schutt und Asche liegende Köln – ganze vier Tage, bevor die 3. US-Panzerarmee in die einst viertgrößte Stadt einrückt.
Für Pilot Leutnant Rohrer ist es die 31. Bombermission und nun wird seine Maschine über der Stadt von der Flak abgeschossen. Es gelingt ihm zwar, mit dem Fallschirm abzuspringen, allerdings landet er ausgerechnet in der von früheren Angriffen bereits bis auf die Grundmauern entkernte uralte große Pfarrkirche St. Kolumba mitten in der Domstadt.
Am 9. März trifft Leutnant Joe Salmon in Köln ein und wird zum Stadtkommandanten Colonel Patterson befühlen für einen Sonderauftrag. Der einstige Joseph Salomon ist hier gebürtig und war zu Kriegsbeginn in seiner Exilheimat USA bei den sogenannten Ritchie Boys für Spezialeinsätze ausgebildet worden. Wie einige tausend ehemalige Deutsche und Österreicher für Aushorchdienste und dergleichen.
Der jetzt 24-Jährige soll unter strenger Geheimhaltung den Lynchmord an einem US-Offozier aufklären, an jenem Piloten Rohrer, der noch am Tag seines Niedergehens in der Kirche erschossen worden war. Ihm zur Seite gestellt wird der britische Presseoffizier Erich Arthur Blair – der seine glänzenden Kriegsberichte aber längst unter dem Pseudonym George Orwell (1903-1950) verfasst.
Wie der Autor von „Farm der Tiere“ (im März 1945 bereits fertiggestellt!) agieren in dem intensiven Geschehen, das nun einsetzt, etliche historische Persönlichkeiten, wenn auch teils in fiktiven Handlungspassagen. So trifft Salmon auf den Ex-Oberbürgermeister Konrad Adenauer und den von den Amerikanern soeben eingesetzten Polizeipräsidenten Karl Winkler.
Aber auch die illegal in Köln lebende Erfolgsautorin Irmgard Keun („Das kunstseidene Mädchen“) und andere damals nahmhafte Akteure spielen Rollen. Doch Salmon, der immer wieder erschüttert durch die apokalyptische Trümmerwüste fährt oder läuft, hat so manche Probleme, die einst so geläufigen Straßen und Häuser – manche nur noch Trümmer, manche ausgehöhlte Ruinen und manche erstaunlich unbeschadet mittendrin – wiederzuerkennen.
Allerdings verfolgt er bei seinen Ermittlungen mit Orwell an seiner Seite auch ganz persönliche Motive: was ist aus der schönen Hilda geworden, in die er noch immer unsterblich verliebt ist. Und lebt Jakub noch, der damals als unverbesserlicher Glücksritter sogar dreiste Spielchen mit den Nazis trieb?
Tatsächlich begegnet Salmon Hilda sogar an exponierter Stelle, denn in der Villa im fast unbeschadeten Nobelvorort Marienburg, in der sie mit Ehemann Eugen Zander lebt, ist US-General Eserly einquartiert. Für Salmon ist es ein bitteres Gefühl, die kühle Angebetete an der Seite des charismatischen Kinderarztes zu sehen, der als „der gute Doktor sogar in ganz Köln einen legendären Ruf genießt.
Andererseits gestalten sich die Recherchen nach dem Pilotenmörder nicht nur schwierig, Salmon gerät sogar selbst dabei in Gefahr. Während er jedoch auf wichtige Spuren des Täters stößt - und dabei auch Geheimbefehle vom Reichsführer SS Heinrich Himmler von 1943 kennenlernt, die das Lynchen von abgeschossenen „Terrorfliegern“ ausdrücklich freigibt – findet er über Jakubs Verbleib nur Widersprüchliches heraus.
So spannend sich die Schnüffelarbeit Salmons auch durchweg liest, mindestens so fesselnd und vielfach auch erschütternd sind die Erkenntnisse über all die Nazi-Grausamkeiten im Verborgenen sowie das widerwärtige Gebaren der vielen Denunzianten.
Verdammt viel bekommen er und Orwell heraus und dabei viel unbeschreiblichen menschlichen Dreck. Sie treffen aber immer wieder auch auf findige Gestalten, die inmitten von allgegenwärtigem Nazi-Terror eben auch im Verborgenen überlebt haben.
Was Joe Salmon dann mit Hilda erlebt und ob er auf Jakubs Spuren stößt, soll hier ebenso wenig verraten werden wie das Ende der Mörderjagd im befreiten linksrheinischen Köln, während die Wehrmacht noch immer östlich des Rheins kämpft und schießt.
Dass dieser historische Roman so fesselt, beruht ganz wesentlich aber auch auf dem exzellenten Zeit- und Lokalkolorit. Cay Rademacher hat wie schon in früheren Werken mit faszinierendem Ergebnis recherchiert. So ist „Nacht der Ruinen“ zu einem hochklassigen Stück Spannungsliteratur geworden, das en passant auch noch einen intensiven Geschichtsunterricht vor sehr authentischer Kulisse bietet.
# Cay Rademacher: Nacht der Ruinen; 429 Seiten; DuMont Verlag, Köln; € 24
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)