MEGAN HUNTER: „DIE HARPYIE“


Lucy Stevenson ist Mitte 30, treusorgenden Mutter zweier kleiner Kindern und fühlt sich ziemlich wohl in ihrem Kleinstadtleben als Ehefrau von Jake, dem etwa gleichaltrigen Biologen, der täglich mit dem Zug zur Universität pendelt. Trotz viel Routine und krümelndem Kinderkram eine in sich ruhende Familienidylle.
Bis die an einem ganz gewöhnlichen Alltag diese Stimme von David Holmes auf der Mailbox die Welt zerreißt: „Ihr Ehemann – Jake Stevenson – schläft mit meiner Frau. Ich meine, dass Sie das wissen sollten.“ Mit diesem Wissen konfrontiert, kommt erst die lahme Beschwichtigung des Betrügers, dass es nichts von Bedeutung und nur rein sexuell sei.
Doch er will es gleich hinter sich bringen und so verspricht er Lucy per SMS nicht nur, die Affäre mit dieser Vanessa sofort zu beenden. Ebenso schriftlich gewährt er ihr als Vergeltung seine Bestrafung nach eigener Wahl. „Drei Mal“ hat er geschrieben und sie hat es ohne Erwiderung angenommen.
Wie sehr Jake die Gutgläubige, die dem kleinen Familienglück zuliebe sogar ihre eigene Akademikerlaufbahn abbrach, verletzt hat, begreift er überhaup0t nicht. In ihr aber breitet sich etwas Gefährliches aus, langsam zunächst, doch da werden Chimären aus der Vergangenheit immer drängender zu Racheengeln.
Und deren Gift breitet sich aus in dem neuen Roman von Megan Hunter unter dem Titel „Die Harpyie“. Diese Halbwesen der griechischen Mythologie erscheinen als Vögel mit Frauengesichtern und sie rächen und strafen und Vergebung kenne sie nicht. Ihr Bild kannte Lucy mit unheimlichen Geschichten von Kindheit an, nun jedoch erwächst in ihr wie in einem Wahn eine unwiderstehliche Identifikation damit.
Noch am selben Tag kauft sie auf dem Markt alle Zutaten für Jakes Lieblingsgericht. Dem vermeintlichen Versöhnungsmahl folgt eine Elendsnacht für den Betrüger und ohne jegliches Mitleid gesteht sie ihm, zwei verschiedene Pasta-Saucen für das feine Essen angerührt zu haben und nur eine war eine bekömmliche.
Doch Lucy wandelt aus brüchigem Boden und reflektiert über die Flachheiten ihrer Ehe und ihres Lebens.Jede Faser der tiefen Verletzung der liebenden Frau durch den treulosen Mann kommt zum Vorschein. Und Lucy wankt nicht nur ohne eine wirklich Vertraute durch die folgende Zeit, mit aller Deutlichkeit stiegen wieder die vielen furchtbaren Bilder ihrer Kindheit und Jugend mit dem Martyrium der Mutter, die immer wieder vom Vater brutal misshandelt wurde.
Präzise seziert sie ihr Eheleben und ihren eigenen, vom ohnehin nicht sehr ausgeprägten Selbstwertgefühl entblößten Stand ihrer kleinen Welt. Da wird die Rachsucht der Harpyie immer mehr zur Zwangsvorstellung und es bedarf nur eines kleinen Auslösers für die zweite Strafmaßnahme – so gnadenlos und krass, dass sie Jakes Berufsleben erschüttert.
Und das Verhängnis schreitet so unheilvoll fort wie die Metamorphose der gedemütigten Frau, für die Vergebung keine Option mehr ist. - Ein unheimliches Verwirren zwischen Wahn und Wirklichkeit wird dieses Psychogramm, das zudem mit souveräner Sprachgewalt wie auch oft galligem Sarkasmus fesselt. Fazit: ein brillant geschriebener heftiger Roman, der in seiner Intensität frösteln lässt.

# Megan Hunter: Die Harpyie (aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen); 227 Seiten; C. H. Beck Verlag, München; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1561 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de