RENÉ MÜLLER-FERCHLAND:
NIEMANNS KINDER
Marta Niemann ist 16 und ihr Bruder Mateo als sogenannter irischer Zwilling ebenfalls,
allerdings zehn Monate später im selben Juahr geboren. Die Beiden leben mit Mutter
Jasmina und deren Schwester Jasenka in einer solch beengten Wohnung in Berlin, dass sich
die Teenager sogar ein Zimmer teilen müssen.
Viel schlimmer aber ist die bedrückende Stille in der Familie mit der schweigsamen Mutter
und deren ähnlich unfröhlichen Pendant der Tante. Am meisten jedoch bedrückt Marta die
Abwesenheit ihres Vaters, über den eisern geschwiegen wird. Doch Marta begehrt dagegen
auf und das ist nun die fesselnde Geschichte um Niemanns Kinder, dem zweiten
Roman von René Müller-Ferchland.
Bruder Mateo fügt sich widerstandslos in das abgekapselte Regime ein, zumal er ein
heikles Geheimnis hat: Martas vermeintlicher Freund Finn ist in Wirklichkeit sein schwuler
Partner. Marta treibt ihre Sehnsucht nach dem so völlig fremden Vater nun an ihren
Geburtsort Frankfurt/Oder zu Jakosch, dem Leiter des Heims, in dem Mutter und Tante damals
als aus dem Bosnien-Krieg geflüchteten Mädchen aufwuchsen.
Zusammen mit Daniel Niemann, den ebenfalls ein schwer traumatisches Erlebnis als Kind
dorthin verschlagen hatte. Was sich jedoch erst später für Marta herauskristallisiert,
als ihr Jakosch schweren Herzens und früher als vorgesehen ein Notizbuch ihres Vaters
aushändigt, das dieser an sie adressiert hatte. Die nun immer wieder eingestellten
Passagen seiner unbeholfenen Eintragungen sind in ihrer hilflosen Ehrlichkeit und
Sehnsucht ein Meisterwerk in sich.
Mit sprachlichen Fehlern, gestrichenen Worten und abgebrochenen Sätzen schält sich seine
ratlose Beklemmung heraus. Da schreibt er über Martas Geburt und wie sehr er sie liebt.
Um dann später fatalistisch die ungelenken Vorgänge der Eheschließung mit der
unnahbaren Jasmina zu schildern, bei der deren Schwester ebenso stets zugegen war wie
nicht viel später, als es erst zur eher zufälligen Zeugung Mateos und dann zum Rauswurf
kommt.
Und nicht erst die nüchterne Feststellung Du bist nicht in Leidenschaft gezeugt
worden macht die Aufzeichnungen des Vaters für Marta schlichtweg trostlos. Da quält es
sie, dass Mateo zu allen Äußerungen zum Vater demonstratives Desinteresse zeigt. Doch so
hart und unnahbar sich die Mutter verhält, wird doch auch freigelegt, welche Traumata der
beiden Kriegswaisen hier das ganze Leben überschatten und bis in die nächste Generation
hineinwirken.
Um so wichtiger ist für Marta und Mateo dann die Nebenrolle Finns, der in normalen
Verhältnissen lebt. Marta rebelliert schließlich am wie üblich schalen Heiligen Abend.
Sie spricht Wahrheiten aus und klagt an, so dass es zur Eskalation kommt und sie in die
Nacht hinausläuft. Das aber ist noch längst nicht das Ende der Geschichte und ihrer
intensiven Sogwirkung.
Dieser so dicht und unkonventionell geschriebene Roman geht ungemein unter die Haut und
selbst, dass er nur ein bisschen Happyend gewährt, macht ihn nur um so authentischer.
Fazit: ein kleines Meisterwerk, das niemanden kalt lassen wird.
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