CONSTANTIN SCHREIBER: „DIE KANDIDATIN“

 
„Doch wie gut würde alles erst werden, wenn Sabah die Macht übernähme. Eine Frau. Eine Migrantin. Eine Muslima. Was für ein Zeichen. Was für Möglichkeiten. Deutschland würde ein neues, besseres Land werden. Mitreißend. Gleichberechtigt. Und gerecht.“
Diese Heilserwartung gilt der 44-jährigen Sabah Hussein und sie steht im Mittelpunkt des Politthrillers „Die Kandidatin“, dem wohl brisantesten Roman dieses Jahres. Für Constantin Schreiber ist das zwar das belletristische Debüt, doch hat der Tagesschau-Sprecher und Grimme-Preisträger (für seine Talkshow „Marhaba – Ankommen in Deutschland“) bereits Sachbuchbestseller gelandet.
Und das mit Islam-Themen, denn er bringt als fließend Arabisch sprechender Experte entscheidende Voraussetzungen dafür mit, dass man die Geschichte ernst nehmen kann. Wobei sie hoch politisch und dabei in vielen Belangen auf gallige Weise satirisch ist und eine Dystopie eröffnet, die schaudern lässt. Angesiedelt in der näheren Zukunft, kann man diese recht gut verorten, denn die Herren Putin und Xi Jiping sind zwar Greise aber immer noch an der Macht.
Zur Eröffnung skandiert ein junger Mann: „Wollt Ihr die totale Diversität?“ Und in Berlin stehen sich die Anhänger Sabah Husseins, also Antifakämpfer und muslimische Schariabrigaden sowie auf der anderen Seite die rechten Heimatkämpfer vor der Zentrale der Ökologischen Partei gegenüber. Es sind die Minuten vor 18 Uhr und die hasserfüllte Spannung steht vor der Explosion: wird Sabah Hussein die erste muslimische Bundeskanzlerin?!
Das Land ist tief gespalten wie am Ende der Weimarer Republik, nur dass die Kontrahenten sich in wichtigen Aspekten unterscheiden. Und das wird in den nun beschriebenen drei Monaten bis zu diesen Minuten mit atemberaubenden Details beschrieben. Es sind ja Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die Sabah erst möglich gemacht haben, allen voran ein aus heutiger Sicht abstruser – aber nicht unrealistischer – Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus.
Erst mit allseitiger Vielfalt werde gesellschaftliche Gerechtigkeit erreicht, deklamiert Sabah. Und während sich weiße Bevölkerungsteile abschotten und Wohlhabende sich in Gated Communities verbarrikadieren, jubeln ihre Anhänger über das monströse Vielfaltförderungsgesetz (VifaföG) mit den aberwitzigen allgegenwärtigen Diversitätsquoten als Korsettstangen einer verpflichtenden Festlegung zum Beispiel, dass jedes Unternehmen mindestens fünf Prozent Mitarbeiter mit nichtweißer Hautpigmentierung und mindestens 15 Prozent Homosexuelle beschäftigen muss.
Muslimischer Glaube spielt auch dabei eine exponierte Rolle und natürlich müssen die Vielfaltsmerkmale in den Ausweis eingetragen werden. Die sind dann für den Berufserfolg vonnöten. Ohnehin haben insbesondere weiße Normalos in dieser Gesellschaft ganz schlechte Karten und wandern besser gleich aus.
Zur fanatischen Propagierung der Diversität gesellt sich eine rabiate Mischung aus Feminismus und Islamismus – was sich hier nicht mehr ausschließt. Zumal progressive Frauen, Männer und Diverse ohnehin längst den alle Körperformen verhüllenden Genderkaftan tragen. Während Sabah Hussein dann einerseits fordert, dass die gesamte private Kommunikation in sozialen Netzwerken „von einer zentralen Stelle einsehbar ist“ (Stasi lässt grüßen?!), propagiert die praktizierende Muslima allenthalben die „Friedensreligion des Islam“.
Und es kommt zu entlarvenden Szenen, wenn sie auf die neue Gender-Bibel für Christen verweist, in der es jetzt Gott/Göttin/göttliches Wesen gibt. Auf die Frage eines Schülers: „Und Allah? Der ist doch auch männlich“ bellt sie, die Frage sei rassistisch und islamophob. Doch es gibt nicht nur in rechten Kreisen Widerstände. So werden dem AKUT-Journalisten Jonas Klagenfurt heikle Fotos zugespielt.
War das syrische Flüchtlingskind Sabah in jungen Jahren Gast in Mleeta im Museum der radikalen libanesischen Hisbollah? Und frönt sie andererseits heimlich protzigem Luxus an der Côte d'Azur? Aber auch weitere Entlarvungen bleiben dann wirkungslos, als Sabah drei Wochen vorm Wahltag bei einer interreligiösen Feier in der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche von einer der eigenen weiblichen Bodyguards – einer blonden Ostdeutschen – ins Koma geschossen wird.
Das Live-Video davon entzündet nach sofortiger Aufhetzung durch die islamistische Aktivistin Yasemin Brutal einen Sturm der Gewalt, der bundesweit zu Gewaltorgien führt, in denen selbst Kirchen und Rathäuser brennen. Und das geht einher mit einer Verhaftungswelle gegenüber allen Kräften, die gegen die neue Linie sind – Hitlers Machtergreifung 1933 lässt grüßen.
Wie hatte die Attentäterin der kopftuchtragenden Richterin Khadija Hatoum doch entgegengeschleudert: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes!“ Ob die denn an diesem Wahltag gelingt, bleibt offen. Doch diese Satire hat auch so genug Stoff für ein beklommenes Gruseln und liest sich passagenweise wie von einem Kafka auf dem LSD-Trip.
Man sollte politisch interessiert sein, um dieses extrem gewürzte Politkonstrukt genießen zu können. Manches davon kommt einem erschreckend bekannt vor und ganz gewiss wird diese brillant entworfene Zukunftsvision heftige Debatten auslösen.

# Constantin Schreiber: Die Kandidatin; 205 Seiten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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